Nachfolgend zwei Lexikoneinträge, die ich zum Thema Selbstmord gefunden habe.
Selbstmord (Freitod; Suizid)
1. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, daß weltweit jährlich knapp 500.000 Menschen Selbstmord begehen, täglich mehr als 1000 Menschen. In Deutschland liegt die Zahl der statistisch erfaßten Selbstmorde bei ca 15.000, wobei man noch mit einer Dunkelziffer von ca. 10.000 Selbstmordfällen rechnen muß, die nicht als solche erkannt werden. Untersuchungen der Suicid-Forschung haben ergeben, daß Zeiten starker politischer Spannungen und der materiellen Not weniger selbstmordgefährdend sind als Zeiten, in denen überdurchschnittlicher materieller Wohlstand herrscht. Dementsprechend nehmen sich Reiche in sehr viel größerer Zahl das Leben als Arme; in den ärmeren Ländern der Dritten Welt ist die Selbstmordrate niedriger als in den reichen Industrieländern. Im Blick auf die Geschlechter ist festzustellen, daß sich weitaus mehr Männer als Frauen selbst das Leben nehmen, daß es aber mehrheitlich die Frauen sind, die Selbstmordversuche unternehmen. In Deutschland ist die Selbstmordrate in der evangelischen Bevölkerung höher als in der katholischen. Mit höherem Lebensalter nimmt die Zahl der gelungenen Selbstmorde zu.
2. Obwohl mit den drei Begriffen Selbstmord, Freitod und Suizid derselbe Tatbestand gemeint ist, kommt in ihnen eine jeweils andere Einstellung und Wertung zum Ausdruck.
a. Den Begriff "Suizid" gebraucht man eher im wissenschaftlichen, ärztlichen und psychologischen Bereich. Er wird in einem wertneutralen Sinn gebraucht.
b. Der Begriff "Freitod" wird oft von Menschen gewählt, die damit
ausdrücken wollen, daß es zum Recht des Menschen
gehört, auch über ihren Tod und seinen Zeitpunkt in Freiheit und Selbstbestimmung
verfügen zu können. Propagiert wurde dieses Recht im bewußten Gegensatz zur
christlichen Auffassung, daß Gott, der dem Menschen das Leben schenkt, auch allein über
den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen habe. Aus psychologischer Sicht ist der Begriff
"Freitod" sicherlich irreführend. Er verdrängt und beschönigt die Tatsache,
daß Menschen sich äußerst selten in geistiger und psychischer "Freiheit" und
Selbstbestimmung das Leben nehmen.
c. Der harte Ausdruck "Selbstmord" dagegen stammt aus einer Zeit, in der Selbst"mörder" und ihre Tat moralisch und ethisch von Gesellschaft und Kirche als verwerflich abgeurteilt wurden. Im Mittelalter mußten Selbstmörder außerhalb der Stadtmauern verscharrt werden, weil die Kirche es nicht erlaubte, den Körper eines Menschen, der so schwer gesündigt hatte, in geweihter Erde zu bestatten. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden Selbstmörder von den Kirchen scharf verurteilt; ein kirchliches Begräbnis wurde ihnen meist verweigert, und wenn der Pfarrer die Beerdigung vornahm, dann ohne Talar, und die Totenglocke durfte auch nicht läuten. Für die betroffenen Familien bedeutete das eine große seelische Belastung und Diskriminierung, die sie zusätzlich zur Trauer über den Tod des Angehörigen zu verkraften hatten. Heute urteilen die Kirchen über Selbstmord und Selbstmörder ganz anders, weil sich in ihnen, wie in der Gesellschaft überhaupt, durch Erkenntnisse der Medizin und der Psychologie eine neue, sachlichere Sichtweise und Beurteilung des Selbstmordes durchgesetzt hat.
3. Eine wichtige Erkenntnis bezieht sich auf die Tatsache, daß in den aller meisten
Fällen Selbstmörder sich nicht in freier
Entscheidung und Selbstbestimmung das Leben nehmen. Sie begehen ihre Tat in einer
psychologischen Streßsituation, in einem Zustand von Ausweglosigkeit, Verzweiflung und
übersteigerter Lebensangst. Deswegen ist es auch unsinnig, einen
Selbstmörder für seine Tat moralisch zu verurteilen und ihm Schuld und Verantwortung
zuzuschreiben. Selbstmord ist nach deutschem Recht keine Straftat, ebenfalls nicht der
Selbstmord-Versuch.
Selbstmord (Selbsttötung, Suizid),
absichtsvolle Tötung der eigenen Person. Suizid wurde zu allen Zeiten in allen Gesellschaften begangen, jedoch gibt es wesentliche Unterschiede in der gesellschaftlichen Einstellung zum Suizid, in den Methoden der Selbsttötung und in der Häufigkeit, mit der im Lauf der Geschichte Suizid begangen wurde.
Geschichtlicher Hintergrund:
Im alten Europa, besonders im Römischen Reich, wurde der Suizid gebilligt und galt
manchmal sogar als ehrenvoll. Unter dem Einfluß des Stoizismus akzeptierten die Römer
viele legitime Gründe für eine Selbsttötung. Der römische Philosoph Seneca pries ihn
als letzte Handlung eines freien Menschen.
Für den Kirchenvater Augustinus war der Suizid jedoch seinem Wesen nach eine Sünde.
Mehrere Konzilien der frühen Christenheit beschlossen, daß Menschen, die Suizid begangen
hatten, nicht kirchlich beerdigt werden durften. Im Mittelalter verurteilte die
katholische Kirche jede Selbsttötung. Das mittelalterliche Recht sah in der Regel vor,
daß das Eigentum dessen, der sich selbst getötet hatte, eingezogen wurde; nach dem
Gewohnheitsrecht wurde der Leichnam schimpflich behandelt. Das englische Recht sah später
in jedem Fall von Selbsttötung die Verwirkung allen Hab und Guts zwingend vor. Dem konnte
man allerdings entgehen, wenn der den Todesfall untersuchende Amtsarzt den Toten
nachträglich für geisteskrank erklärte. 1870 wurde dieses Gesetz abgeschafft. 1823
wurde die Bestattung von Selbstmördern auf geweihtem Grund legalisiert, aber erst 1882
wurde auch die kirchliche Beisetzung erlaubt. Nach christlichem, jüdischem und
islamischem Glauben ist die Selbsttötung nach wie vor verboten. Heute betrachtet man den
Suizid jedoch eher unter psychosozialen als unter moralischen Aspekten. 1897 stellte
Émile Durkheim die These auf, daß der Suizid kein rein individualistischer Akt sei,
sondern vielmehr ein soziologisches Phänomen. Er sah in ihm eine Folge sozialer
Fehlanpassung und mangelnder sozialer Integration. Durkheim unterschied vier Typen des
Suizids: den egoistischen, den altruistischen, den anomischen und den fatalistischen. Nach
seiner Auffassung war jede Art des Suizids Ausfluß spezifischer sozialer Bedingungen: der
egoistische und der altruistische Suizid einer zu geringen bzw. zu starken Integration in
die Gesellschaft, der anomische und der fatalistische Suizid dagegen von Regellosigkeit
bzw. zu starker Regulierung.
Auslösende Umstände:
Der Suizid ist eine komplexe Handlung mit biologischen, psychischen und sozialen Ursachen.
Aus psychiatrischer Sicht läßt sich beispielsweise feststellen, daß Suiziden meist eine
tiefe Depression vorausgeht.
Der Suizid ist eine Flucht aus einer als schmerzlich empfundenen Situation; er kann dabei
auch als Racheakt an der Person gedacht sein, die für das Leiden, von dem die
Selbsttötung befreien soll, verantwortlich gemacht wird. Solche Gefühle werden manchmal
in Abschiedsbriefen formuliert. Zumeist aber dürfte der Suizid eine Reaktion auf das
fortgesetzte Empfinden sein, daß das Leben zu viele Schmerzen bereithält, und daß nur
der Tod dauerhaft Erleichterung verschaffen kann.
Unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen steigt die Suizidrate oft sprunghaft an.
Das war beispielsweise im 1. Weltkrieg unter jungen Deutschen der Fall oder in den USA zum
Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1933. In einzelnen Fällen kommt es auch vor, daß
Menschen mit ihrer Selbsttötung gegen die Politik beispielsweise eines Unrechtsregimes
protestieren.
Mißlungene" Suizidversuche sind manchmal ein Hilfeschrei. Mißachtet man sie,
so kann ein erfolgreicher" Suizid die Folge sein. Solche Hilfeschreie dürfen
aber nicht mit den eher manipulativen Formen aufmerksamkeitsheischender
Suizid-Versuche" oder -Drohungen verwechselt werden, die dazu dienen sollen,
Macht über die Gefühle und das Verhalten anderer Menschen, in der Regel der
Familienmitglieder, zu gewinnen.
Einstellungen zum Suizid:
In vielen Ländern verstößt ein Suizid gegen Gesetze; in anderen, besonders in
römisch-katholisch geprägten Ländern, ist er gesellschaftlich geächtet, ohne daß es
dazu besonderer Gesetze bedarf. Den extremen Gegenpol bilden Gesellschaften, in denen
bestimmte Formen der Selbsttötung besonders hochgeachtet werden. Früher galt es
beispielsweise bei den Japanern als ehrenhaft, Harakiri zu begehen: Eine Person, die wegen
eines Fehlers oder einer Pflichtverletzung ihre Ehre verloren hatte, konnte dies
wiedergutmachen, indem sie sich in ritueller Weise mit einem Dolch durchbohrte. In Indien
wurde bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einer Witwe erwartet, daß sie Sati beging,
das heißt sich auf den Scheiterhaufen warf, auf dem der Leichnam ihres Mannes verbrannt
wurde. Dies nicht zu tun wäre unehrenhaft gewesen. Im 2. Weltkrieg betrachteten
japanische Kamikaze-Piloten es als Ehre, Selbstmordkommandos zu fliegen, in denen sie sich
mit ihrem Flugzeug auf ein feindliches Ziel stürzten.
Derzeitige Entwicklungen:
In römisch-katholisch geprägten Gesellschaften sind die Suizidraten im allgemeinen
niedriger als in protestantischen. Jedoch spiegelt dies vermutlich lediglich die Tatsache
wieder, daß Katholiken sich weit stärker als Protestanten genötigt sehen, einen Suizid
zu verschleiern. Offiziellen Statistiken zufolge sind im Laufe dieses Jahrhunderts die
Suizidraten tendenziell gestiegen. Manche Fachleute schreiben dies jedoch den verbesserten
Methoden der Erhebung statistischer Daten und der schwindenden Stigmatisierung des Suizids
zu.
Die steigende Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Gesellschaften mag mit dazu
beitragen, daß manche ältere Menschen, die schwere Verluste zu verkraften haben oder
unheilbar erkrankt sind, Suizid begehen. Dabei bitten sie nicht selten einen Arzt um Hilfe
(Tötung auf Verlangen, Euthanasie). Das einzige Land, in dem die Tötung auf Verlangen
unter gewissen Umständen straffrei bleibt, sind bislang die Niederlande. In einigen
Bundesstaaten Australiens, Kanadas und der Vereinigten Staaten werden Gesetzesänderungen
diskutiert, die eine richterliche Differenzierung bei Fällen der Tötung auf Verlangen
ermöglichen sollen.
Wachsende Einsamkeit, Entwurzelung und Sinnverlust sind nach Ansicht vieler Psychologen
dafür verantwortlich, daß die Suizidhäufigkeit in den Industriestaaten ansteigt.
Menschen, die suizidgefährdet sind oder eine Krise durchleben, können sich in
Deutschland unter der bundeseinheitlichen Rufnummer 1 11 01 oder 1 11 02 an die
Telefonseelsorge der Kirchen wenden. Viele Städte unterhalten auch Kindernottelefone und
Frauennotrufe; große Wohlfahrtsorganisationen und die Kommunen bieten Beratungsstellen,
an die man sich wenden kann. In den psychiatrischen Kliniken gibt es zudem meist
Abteilungen zur Krisenintervention.