Wenn Du das Leben wirklich satt hast, den Zwang, andere Menschen treffen zu müssen und
mit ihnen sozial zu interagieren, für den Unterhalt Deines ärmlichen Lebens Tag für Tag
einen Job ausfüllen zu müssen, den Du eigentlich haßt, den Verdruß, Tag für Tag
weiter machen zu müssen, dann gäbe es theoretisch die Möglichkeit, all dem durch einen
baldigen Freitod zu entfliehen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan, denn
Entscheidungsfindung, Methodenfindung und Vorbereitungen kosten eine Menge Kraft,
Überwindung und Zeit.
So kann es passieren, daß Du quasi zwischen Leben und Tod feststeckst, ggf. über Jahre
hinweg. Du bist unfähig, ein Leben ohne täglichen Daseinsschmerz zu führen, aber
gleichzeitig bist Du auch (noch ?) nicht in der Lage, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Folglich bist Du gezwungen, Dich irgendwie mit dem Alltag zu arrangieren.
In der Gesellschaft ist der Wunsch nach dem Tode, die Depression, Traurigkeit, Angst usw.
typisches Tabu-Gebiet.
Die Leute müssen ständig fröhlich sein, sie sollen lachen, sie sollen gut aussehen, sie
sollen kaufen, sie sollen konsumieren, sie sollen sich an oberflächlichen Unterhaltungen
ablenken, aber ganz sicher sollen sie nicht nachdenklich oder depressiv sein.
Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, daß es zunächst eine ganze Menge Energie
kostet, gezwungenermaßen so weiterzumachen wie bisher. Man kann es sich einfach nicht
leisten, sich in eine Ecke zu setzen und die Leute mit dem eigenen Selbstmitleid, den
Problemen und den Gedanken zu konfrontieren.
Tatsächlich scheint auch niemand zu existieren, der verstehen würde und dem ich es
erzählen könnte und würde. Es macht einfach keinen Sinn, vor all diesen Dummköpfen das
Innerste nach außen zu kehren.
Deshalb trägst Du Masken in der Öffentlichkeit. Du tust so, als wärst Du einer von
ihnen, nicht einer von uns.
Und das ist besonders anfangs sehr sehr schwer und funktioniert auch nicht immer. Es ist
manchmal gar nicht leicht, die Fassung in der Öffentlichkeit zu bewahren und den wenigen
Menschen, die tatsächlich etwas hinter die Fassade schauen, ständig etwas vorzumachen.
Zum Glück gibt es von dieser Sorte nicht allzu viele.
Nach einer Weile wird die Verstellung Routine. Es ist vielleicht sogar schon eine Art von
Schizophrenie, doch ich kann mittlerweile sehr deutlich zwischen den Masken, die ich
tragen muß und meinem eigentlichen Ich unterscheiden.
In dieser Unterscheidung, in dieser Fähigkeit, hinter die eigenen Masken zu schauen,
sehe ich eine ganz wichtige Eigenschaft. Es ist eine Art romantischer Stolz, den ich mir
im Herzen behalte. Egal wie übel der Alltag ist, es juckt mich wenig, denn ich weiß, ich
habe keine Zukunft und ich spiele nur dieses Leben und dies hoffentlich auch nicht mehr
all zu lange. Ich muß mich mit dem ganzen Alltagsscheiß nicht arrangieren, da das alles
nicht mich betrifft, sondern nur meine Masken. Ich will mich auch gar nicht arrangieren.
Wahrscheinlich könnte ich's auch gar nicht, selbst wenn ich wollte.
Immer wenn es schwer ist, durch den Tag zu kommen, horche ich in mich hinein und stelle
fest: O.K., hier ist die Scheiße wieder am Kochen, aber beruhige Dich, es kann Dich nicht
wirklich verletzen. Egal was passiert, Du wirst nicht ewig hier sein, kosmisch gesehen ist
das hier alles höchst lächerlich.
Die Zeit an sich ist hier auch eine kurze Betrachtung wert. Wenn man depressiv oder
suizid ist, beklagt man oft die endlosen schmerzlichen Stunden, die man ertragen muß.
Doch, wenn man wirklich darüber nachdenkt, erkennt man, daß der Fluß der Zeit ein Segen
ist. Jede Stunde, die vergeht (und wenn sie auch noch so übel ist), bringt einen eine
Stunde näher zum Ende des ganzen Mists. Denke nur an die Vorstellung, daß die Zeit
stoppen würde und diese Situation bis in alle Ewigkeit anhalten würde. Absolut
furchtbar. Der beste Freund ist die Vergänglichkeit.
Denke nur an die ganzen Dummköpfe, die all ihre Kraft und ihre Hoffnungen in ihre
ärmlichen Leben stecken. Sie erkennen gar nicht, wie sinnlos und unwichtig alles (und am
meisten die eigene Person) ist. Und genau das ist es vermutlich, was sie am Laufen hält.
Wenn Du schon eine Weile suizid bist und intensiv über alles nachgedacht hast, kannst Du
hinter die Kulissen schauen und verstehst das Spielchen. Glücklicher wirst Du dadurch
zugegebenermaßen allerdings auch nicht. Eher im Gegenteil.
Im Grunde ist das Schlimmste am ganzen Spiel die Langeweile. Wenn man den Lauf der Dinge
erst mal durchschaut und für sich die Bedeutung dieser ganzen gesellschaftlichen und
persönliche Rituale als irrelevant eingestuft hat, hat es das Schicksal schwer, einen
noch zu überraschen. Man hat das Gefühl, alles schon gesehen zu haben, alles schon
gefühlt zu haben und baut mit der Zeit eine Art Abstand zur eigenen Rolle auf.