freitod ASH
back next

Letzte Aenderungen: 14.8.96
Version: 1.2

SUIZID - DIE DEBATTE

Gewoehnlich schreiben in ash vier verschiedene Sorten von Leuten:

  1. Unglueckliche Menschen, die wissen, dass sie ungluecklich sind und sicher gehen wollen, dass es auch jeder weiss.
  2. Unglueckliche Menschen, die wissen, dass sie ungluecklich sind, und wissen, dass es alle anderen auch sind.
  3. Unglueckliche Menschen, die andere noch ungluecklicher machen (spammer). Und schliesslich:
  4. Unglueckliche Menschen, die nicht glauben, dass sie ungluecklich sind und duemmlich versuchen, jeden davon zu ueberzeugen, dass sie es nicht sind.

Diese FAQ versucht der letztgenannten Gruppe zu antworten. Sie ist eine Sammlung von Klischees und Entgegnungen, die der Usenet Newsgruppe alt.suicide.holiday (kurz: ash) entnommen ist. Ich habe auch einige eigene Gedanken hinzugefuegt, somit enthaelt dieser Text auch einigen Unsinn...

Bitte ergaenze den Text um weitere Klischees, Argumente, Korrekturen, etc... Antworten vorzugsweise per Email (viele Postings erreichen mich nicht) an: rapids@nym.alias.net


Disclaimer

Ich hafte fuer nichts. Die Inhalte dieses Textes sind moeglicherweise voellig ungenau, unangemessen, irreleitend oder sonstwie pervertiert. Selbst mein Name ist nicht real und meine Email-Adresse kann ohne Vorankuendigung wechseln.


Inhalt

 0  Vorwort
 0.1  Ziele der FAQ
 0.2  Aufbau der FAQ

 1  Theologische Klischees
 1.1  Leben ist ein Geschenk Gottes
 1.2  Kommen Selbstmoerder nicht in die Hoelle ?
 1.3  Glaube an Gott und er wird dich vor dem Suizid retten
 1.4  Nur Gott darf ueber Leben und Tod entscheiden

 2  Soziale Klischees
 2.1  Suizid ist egoistisch

 3  Psychologische Ueberredungen
 3.1  Das Vergleichs-Argument
 3.2  Das Aufschub-Argument
 3.3  Es gibt Hoffnung

 4  Pseudo-Psychoanalyse
 4.1  Selbstsmoerder wollen nur Beachtung erhaschen
 4.2  Selbstmord ist der einfache Ausweg
 4.3  Selbstmord ist eine feige Tat

 5  Sinnlose Klischees
 5.1  Selbstmord ist keine Loesung
 5.2  Es ist einfach, Selbstmord zu begehen
 5.3  Leben ist das einzige Gut, das du hast
 5.4  Selbstmord ist wider die Natur
 5.5  Nun, wie kommt es das du selbst noch am Leben bist ?

 Anmerkungen

 Danksagungen

0 Vorwort

Suizid ist nichts ungewoehnliches. Nach Autounfaellen und Mord ist er die dritthaeufigste Todesursache junger Erwachsener in Nordamerika [2]. Suizid ist ein hoechst empfindliches und kompliziertes Thema. Es beinhaltet philosophische, psychologische, medizinische, theologische und juristische Streitfragen. Wie auch immer, die meisten Leute scheinen entschieden zu haben, dass Suizid toericht, falsch und unmoralisch ist, und sie haben scheinbar viele Argumente, um ihre Ansichten zu stuetzen.

Auch wenn das Thema tabu ist, vermieden kann es nicht werden. Suizid ist in den Medien sehr augenfaellig. Tatsaechlich kennen viele Leute auch selbst jemanden, der sich sein Leben genommen hat. All das erfordert, sich eine Meinung darueber zu bilden. Wie kann man sich einem so schwer zu baendigenden Problem am besten annaehern ? Warum sind sich so viele Leute ihrer Ueberzeugungen so sicher ? Warum wird ash permanent mit den ewig gleichlautenden, langweiligen und substanzlosen Klischees bombadiert ?

Klischees erlauben es der Gesellschaft, die Kluft zwischen der dem Problem innewohnenden Komplexitaet und dem Willen der Gesellschaft, Leben zu erhalten, zu ueberbruecken.

Manche Klischees lenken das Interesse am Thema ab. Manche beuten die psychologische Situation von Suizidaeren aus. Aber viele sind einfach unrelevant, unlogisch oder fussen auf fragwuerdigen Vorannahmen [3]. Klischees sind stets fuer jedermann einfach genug zu verstehen, aber sie behandeln nicht wirklich das Thema an sich.

Der jetzige Zustand ist paranoid. Jedliche suizidaere Absicht wird als Krankheit abgetan, die geheilt werden muesse. In vielen Faellen ist das tatsaechlich der Fall, aber in vielen eben gerade nicht so eindeutig klar wie die Gesellschaft es uns gerne glauben machen moechte. Selbst sterbenskranke Patienten mit marternden Schmerzen koennen ihr Leben nicht beenden. Wie kann die Gesellschaft nur so taub gegenueber den Beduerfnissen ihrer Mitglieder sein ? Das 21.Jahrhundert steht vor der Tuer und wir halten uns immer noch an den Hippokratischen Eid[4] als moralische Richtlinie, obwohl er mehr als 2000 Jahre alt ist.

Diese Einstellung zu aendern ist keine leichte Sache. Das zeigt sich im Kampf der Euthanasie-Organisationen weltweit um eine Gesetzesaenderung, die Totkranken und Alterssenilen erlaubt, ihr Leben in Frieden zu beenden. Ihr langsames Vorankommen haengt mit der demokratischen Gesellschaftsform zusammen, in der die meisten von uns leben. Denn Demokratie heisst das Gesetz der Mehrheit wird von Repraesentanten durchgesetzt. Menschen, die Suizid begehen wollen sind aber stets in der Minderheit, und in einer sehr schwachen dazu.

Andererseits ist Demokratie nicht einfach gleichbedeutend mit dem Gesetz der Mehrheit. Das Naziregime war auch demokratisch gewaehlt und so die Wahl der Mehrheit. Aber deshalb kann man es noch lange nicht demokratisch nennen. Das Wesen der Demokratie liegt in den Einschraenkungen, die der Regierung auferlegt sein sollte und in den Grenzen wie Gesetzen der Mehrheit gegenueber der Minderheit.

Wir koennen froh sein, in Zeiten zu leben, in denen sich die Werte permanent aendern. Minderheiten rund um den Globus fordern ihre natuerlichen Rechte ein, sei es die fortschreitende Emanzipation der Frau, sei es das Schwinden der Rassendiskriminierung. Sexuelle Vorlieben, fuer die man in der Vergangeheit noch ins Gefaengnis wandern konnte, werden immer mehr als Privatsache jedes einzelnen anerkannt. Die Verfuegungsgewalt ueber unseren Koerper, das hoechste Rechtsgut, ist eine weitere Grenze, die die Regierung erkennen und anerkennen sollte.


0.1 Ziele der FAQ

Die ash Newsgruppe wird permanent von selbsternannten Anwaelten des Lebens unter Beschuss genommen. Diese FAQ ist ein Versuch, diese Angriffe zu kategorisieren und zu beantworten. Es wird nicht der Versuch unternommen, Suizid als richtig, zulaessig, generell oder im Einzelfall als moralisch richtig zu erweisen. Einzig sei hier gezeigt, dass Suizid durch diese Angriffe nicht als falsch erwiesen wurde.

Es sollte niemanden ueberraschen, dass die meisten moralischen Fragestellungen schwierig oder gar unmoeglich auf die ein oder andere Weise zu loesen sind. Was in der Tat ueberraschend ist, ist die sture Ueberzeugung einiger Pro-Leben Beitraege und deren voellige Ignoranz gegenueber der Meinung von ashern. Obwohl dieser Text moeglicherweise manchen Anti-Suizid-Ueberzeugten die Falschheit ihrer Meinung offenlegt, liegt sein wahrer Zweck wo anders. Naemlich Leuten, die neu zu ash dazugekommen sind, unsere Sicht der Dinge verstehen zu helfen und verstaendlich zu machen, dass das Thema alles andere als trivial ist.

Fuer alle, die ash schon laenger kennen, kann die FAQ als Fundgrube von Antworten auf verschiedene Pro-Leben-Argumente dienen. Als ganzes jedoch dient sie einem anderen Zweck: Wenn man depressiv und suizid ist, und ewig "Selbstmord ist keine Loesung", "nur Verrueckte bringen sich selbst um" anhoeren muss, dann macht das manchen Leuten starke Schuldgefuehle und man wird noch depressiver. Begreift man Suizid als eine Wahlmoeglichkeit, ist das hilfreicher als durch steigende Depression noch depressiver zu werden.

0.2 Aufbau der FAQ

Weil diese FAQ versucht vollstaendig zu sein, wurden auch Argumente Pro-Leben aufgenommen, die man selten in ash hoert. Natuerlich konnten nicht alle Argumente hier aufgenommen werden. Ist die Antwort zu naheliegend (und daher uninteressant), wuerde das Argument nicht aufgenommen.

Ein Hauptproblem war die Aufteilung all dieser Argumente. Nicht alle sind Klischees, manche sind jahrtausendalte philosophische Diskussionen. Andere Angriffe sind eher duemmlich, kommen aber dafuer haeufig vor. Ein guter Startpunkt ist herauszufinden, welcher Art die Fragen sind und worueber die Diskussion geht.

Die erste Frage ist offensichtlich: "ist Suizid unmoralisch" ? Dies laesst sich in drei verschiedene Fragen zerlegen: Ist Suizid unmoralisch Gott gegenueber ? Oder gegenueber der Gesellschaft ? Oder gegenueber sich selbst ?

Angenommen die Schlussfolgerung sei, dass Suizid nicht als unmoralisch bewiesen werden kann, ist die Debatte dennoch nicht zuende. Ein Pro-Lebens-Anwalt kann immer noch behaupten, Suizid sei irrational. Eine Handlung, die nicht als unmoralisch erachtet wird, kann dennoch irrational sein. Einfach gesagt halten wir eine Handlung fuer irrational, wenn weder die handelnde Person noch irgendjemand anderes sie erklaeren kann, indem er vernuenftige Gruende fuer sie vorbringt.

Angenommen jemand nimmt an einem Marathon in einem Hochzeitskleid teil. Wir fragen ihn, warum er das macht und er kann es nicht erklaeren. Wir fragen auch seine Freunde und sie koennen es auch nicht erklaeren. Die Schlussfolgerung ist, dass seine Handlung irrational ist. Er macht das vielleicht, weil er betrunken ist, unter dem Einfluss von anderen Drogen steht oder weil er einfach verrueckt ist. Aber all das sind keine Erklaerungen seiner Beweggruende, dies zu tun, sondern vielmehr Zeichen unserer Verlegenheit, eine passende Erklaerung zu finden. Diese Handlung ist zwar irrational, aber nicht unmoralisch.

Die Organisatoren des Marathon koennten ihn vom Rennen ausschliessen. Sie sind in diesem Falle das "Gesetz" und befugt, so zu entscheiden. Falls dieser Marathon jedoch eine oeffentliche Veranstaltung ist (zB. ein Marathon in den Strassen von San Francisco), wuerde dieser Mann wohl als Sonderling betrachtet, aber nicht vom Rennen ausgeschlossen werden.

Rationale Handlungen koennen auch illegal sein. Z.B. ist das Rauchen weicher Drogen zur Linderung chronischer Schmerzen in vielen Laendern illegal.

Was hier behauptet wird ist, dass die Fragen nach Moral, Rationalitaet und Legalitaet des Suizids miteinander verwandt sind, aber sich nicht untereinander zur Folge haben. Die Antwort auf eine Frage ist nicht zugleich die auf eine andere. Daher ist es angemessen, jede einzelne von ihnen fuer sich zu behandeln.

Unmoralitaet gegenueber Gott wird in Abschnitt 1 behandelt, gegenueber der Gesellschaft in Abschnitt 2. Abschnitt 3.3, 5.3 handeln von Pflichten gegenueber sich selbst. Die Frage, ob Suizid irrational ist, versucht Abschnitt 3.3 und 4 zu klaeren. Ob die Gesellschaft das Recht hat, Suizide zu verhindern, steht nicht im Blickpunkt dieser FAQ.

Abschnitte, die bisher nicht erwaehnt wurden, haben nichts mit Moral oder Rationalitaet zu tun. Sie zielen einfach darauf ab, Leute davon zu ueberzeugen, nicht Suizid zu begehen. Das wird durch psychologische Argumente (Abschnitt 3) zu erreichen versucht. Der Suizidaer soll sich dadurch besser fuehlen, seine Hoffnung gestaerkt oder seine Entscheidung verzoegert werden. Abschnitt 5 enthaelt zu guter Letzt Argumente, die ich sonst nirgends einordnen konnte.


1 Theologische Klischees

Die meisten Vertreter solcher Klischees nehmen nicht zur Kenntnis, dass einige (bzw. viele) Suizidaere Atheisten sind. Daher haben solche Klischees keinerlei Wirkung auf sie. Die Argumentationsweise eines Atheisten ist einfach - da er nicht an die Existenz eines Gottes glaubt, sind ihm diese Klischees bedeutungslos.

Auf der anderen Seite muss jede/r, der/die streng einer bestimmten Religion folgt, sich mit einigen der folgenden Klischees auseinander setzen. Jedoch denke ich, dass die wenigsten Leser von ash Religionsanhaenger sind. Denn Religion beinhaltet stets psychologische Loesungen.

Um die Sache interessant zu machen, nehmen wir an, dass die Entgegnungen zu den folgenden Klischees von einem ziemlich skeptischen Theisten stammen, der an ein hoechstes Wesen glaubt, aber die Einsichten der grossen Religionen in Frage stellt. Solch eine Kombination ist durchaus moeglich: David Hume [1], ein Philosoph des 18.ten Jahrhunderts, glaubte an Gott, hielt aber Selbstmord weder fuer ein Vergehen gegen Gott, gegen die Gesellschaft noch sich selbst gegenueber.

1.1 Leben ist ein Geschenk Gottes

Dieses Klischee deutet an, dass wir auf unser Leben Acht haben sollen. Das sei unsere Pflicht gegenueber Gott. Er habe uns dieses Geschenk gemacht, damit wir es be-/erhalten.

Entgegnung:

Wenn Leben ein Geschenk ist, dann sollte es mir erlaubt sein, damit zu tun, was immer ich auch will. Schliesslich gehoert es ja mir, und es steht mir frei, es auch wegzuwerfen.

Das Klischee will folgendes suggerieren: weil uns Gott das wertvolle Geschenk des Lebens gegeben hat (und so seine Guete an uns erwiesen hat), sollten wir ihm den Gefallen zurueckerweisen, unser Leben -so gut wie es in unseren Moeglichkeiten steht- zu erhalten, denn dies sei Gottes Wille (nun, das ist ja auch der Grund, warum er uns das Leben zuerstmal gegeben hat, oder ?). Viele Suizidaere werden entgegnen, dass das Leben eine Last ist und kein Geschenk. Daher werden sie keine Notwendigkeit sehen, Gott einen Gefallen dafuer zurueck zu erweisen.

1.2 Kommen Selbstmoerder nicht in die Hoelle ?

Der Konsens christlichen Glaubens bzgl. Suizid ist, dass Gott uns das Leben geschenkt hat und diesem eine goettliche Bestimmung innewohnt. Um diese Bestimmung zu verwirklichen haben wir allerdings auch einen freien Willen bekommen, so dass wir zwischen Gut und Boese waehlen koennen. Suizid ist dem Boesen zuzurechnen, da man die Hoffnung auf Gott aufgibt. Und ohne Gott ist alles, was uebrig bleibt, boese. Nach dem Tod werden diejenigen, die das Gute gewaehlt haben, in den Himmel kommen und diejenigen, die das Boese gewaehlt haben, ewige Hoellenqualen erleiden.

Auch der Islam hat klare Richtlinien bzgl. Suizid. Der Prophet Mohammed sagte, dass Selbstmoerder die Ewigkeit damit verbringen werden, sich selbst zu toeten; genau so wie sie es in der diesseitigen Welt taten. Willst du dich wirklich fuer ewig in den Mund schiessen oder dich ewig vergiften ?

Der Buddhismus glaubt, dass saemtliche Folgen deines Karmas, an denen du momentan leidest, dich auch in dein naechstes Leben begleiten werden. Und sicherlich sind sie dir aus deinem frueheren Leben gefolgt, weil du sie damals nicht angegangen bist. Mit anderen Worten, du solltest die Folgen jetzt angehen und in deinem jetzigen Leben veraendern, was dich stoert, denn andernfalls wirst du es im zukueftigen Leben tun muessen.

Entgegnung:

Das ist eine raffinierte Methode sozialer Kontrolle. Die Leute werden davon ueberzeugt, dass es von ihrem Verhalten abhaengt, ob sie nach ihrem Tod an einen angenehmen oder unertraeglichen Ort kommen und dort die Ewigkeit verbringen. Aber Tatsache ist, dass wir nicht wirklich wissen, was geschieht, wenn wir sterben und es wohl auch nie erfahren werden.

Das ganze kann man auch im Zusammenhang der Entstehungen von Religionen betrachten. Eine Religion, die zum Suizid ermutigen wuerde, haette keine lange Ueberlebenszeit. Dagegen ist eine Religion, die den Suizid verdammt, wesentlich anziehender (fuer die meisten jedenfalls). Daher haben solche Religionen die Oberhand gewonnen. Die meisten Menschen sind nicht suizidaer, daher passen solche Religionen viel besser zu ihren Ansichten.

Menschen, die Suizid aus den ueblichen Gruenden (bestimmte emotionale Probleme oder tiefer Schmerz) begehen, handeln weniger willentlich als vielmehr meist aus Angst oder Verletzung heraus. Sie sind daher nicht voallstaendig fuer ihr Handeln verantwortlich zu machen. Es faellt mir schwer zu glauben, dass Gott irgendetwas anderes als gerecht und barmherzig zu diesen Menschen ist, auch wenn sie sich getoetet haben.

1.3 Glaube an Gott und er wird dich vor dem Suizid retten

"Allein mein Glaube an Gott und mein Vertrauen in seine Liebe und Allmacht haelt mich noch zurueck, mich selbst zu toeten."

Entgegnung:

Es war nicht die Gnade des guetigen und gnaedigen Gottes, die dich vor dem Selbstmord gerettet hat, sondern vielmehr einfach nur _dein Glaube_ daran/an ihn. Es war allein die Kraft deiner Entscheidung.

1.4 Nur Gott darf ueber Leben und Tod entscheiden

... Leben ist Gottes Geschenk an die Menschheit und untersteht seinem Machtbereich; nur Gott darf toeten und zum Leben erwecken. Daher suendigt jeder, der sich sein Leben nimmt, gegen Gott; genauso wie jemand, der eines anderen Sklaven toetet gegen dessen Halter suendigt, und der sich widerrechtlich das Urteil ueber eine Sache aneignet, die ihm nicht anvertraut ist. Es steht nur Gott alleine zu ueber Tod und Leben ein Urteil zu sprechen...
THOMAS VON AQUIN
[5], Summa Theologica II-II, 64,5

Entgegnung:

Wenn das Verfuegungsrecht ueber das menschliche Leben so sehr reserviert waere wie die dem Allmaechtigen eingentuemliche Vorsehung, und wenn es ein Eingriff in sein Recht waere, wuerde der Mensch ueber sein eigenes Leben verfuegen, dann waere es aehnlich verbrecherisch fuer die Erhaltung von Leben wie for seine Zerstoerung zu handeln.. Wenn ich einen Stein, der im Begriff ist, mir auf den Kopf zu fallen, zur Seite ablenke, stoere ich den Gang der Natur, und ich dringe in das ihm eigentuemliche Gebiet des Allmaechtigen ein. Denn ich verlaengere damit mein Leben ueber die mir von den allgemeinen Gesetzen von Ursache und Wirkung zugemessene Zeitspanne hinaus.
DAVID HUME [1], Essays on Suicide and the Immortality of the Soul

Das Paradox ist folgendes: Wenn Leben und Tod voellig in der Hand Gottes liegt, dann ist es gleich suendhaft, das eigene Leben zu verlaengern wie es zu verkuerzen. In unserem Falle ist ein Felsstein im Begriff jemandem auf den Kopf zu fallen. Das ist ein natuerlicher Vorgang. Da Gott das Universum erschaffen hat und ihm so alle herrschenden Naturgesetze unterliegen, ist das Fallen des Steins goettlicher Wille. Dem Stein auszuweichen waere demnach eine Suende.

2 Soziale Klischees

Diese Klischees beziehen sich auf die Beziehungen und Pflichten des Suizidaers im gesellschaftlichen Kontext.

2.1 Suizid ist egoistisch

"Wir alle haben Pflichten gegenueber der Gesellschaft, der Familie und Freunden."

... jeder Teil gehoert als solcher zum Ganzen. Jeder einzelne Mensch ist Teil einer Gesellschaft, und als solcher gehoert er zur Gesellschaft. Daher verletzt er die Gesellschaft, wenn er sich selbst toetet ...
THOMAS VON AQUIN [5], Summa Theologica II-II, 64,5

Entgegnung:

Diese Argumentation kann man natuerlich auch auf den Kopf stellen: Angesichts der Ueberbevoelkerung der Welt ist es egozentrisch, sich gerade *nicht* zu toeten. Und von daher ist es boese oder negativ. Das ist eine ebenso gueltig Argumentation, welche die obige ziemlich entkraeftet.

Von einem konservativeren Standpunkt aus koennte Suizid als egoistische Tat betrachtet werden, aber sind nicht die meisten Dinge die wir tun egoistisch ? Und wollen unsere Familie und Freunde nicht aufgrund ihrer eigenen egoistischen Gruende, dass wir am Leben bleiben ? Bedenke auch, dass in manchen Faellen die Leute um dich (Gesellschaft, Familie und Freunde) diejenigen sind, die zu deinem Leiden beitragen (wenn es nicht gar verursachen), und so auch zu deinem Suizidwunsch. Sollte wir in solch einem Fall an Pflichten gegenueber anderen gebunden sein ?

Allein das Argument, Suizid sei egoistisch, bedeutet ja noch nicht, dass er nicht erlaubt sein sollte. Nehmen wir mal an ein Mann verlaesst sein Land, seine Familie und Freunde und reist zB. nach Indien um dort einer abgesondert lebenden Sekte beizutreten. Jener hat ebenso all seine vorherigen Pflichten hinter sich gelassen, aber seine Taten sind nicht illegal.

Mich wuerde interessieren, was diejenigen, die dieses Klischee vertreten ueber einen alten, einsamen Mann sagen wuerden, der weder Freunde noch Familie hat und pensioniert ist (und damit die Gesellschaft mehr belastet als ihr nutzt). Wuerden sie den Suizid dieses Mannes billigen ? Ich vermute nein. Und das, obwohl der Tod dieses Mannes der Gesellschaft keinerlei Schaeden verursachen wuerde. Ja selbst wenn es fuer diesen Mann moeglich waere, etwas zur Gesellschaft beizutragen (zB. ehrenamtlich in einem Krankenhaus zu arbeiten), waeren wahrscheinlich die Kosten dieses leidenden Mannes erheblich gewichtiger als dessen Nutzen fuer die Gesellschaft.

3 Psychologische Ueberredungen

Hinter den folgenden Klichees ist wenig Logik (obwohl ich nicht behaupte, dass sie unlogisch waeren), aber sie erreichen, was sie wollen - naemlich Leute zu ueberreden, keinen Suizid zu begehen. Sie tun das, indem sie die Art wie die Leute denken, fuehlen und sich benehmen ausnutzen, um sie besser fuehlen zu lassen. Wenn sich jemand ueberreden lassen will, nicht Suizid zu begehen, dann sind solche Argumente wohl wirksam. Jedoch versuchen diese Argumente (und die im naechsten Abschnitt) nicht einmal andere davon zu ueberzeugen, dass Suizid falsch ist. Tatsaechlich wird hier die Illegimitaet des Suizid als eine zugrundeliegende Voraussetzung verstanden.

3.1 Das Vergleichsargument

Dieses Argument vergleicht deine jetzige Situation mit einer anderen Situation (in der du dich oder jemand anders befand), die viel schlechter erscheint, oder zumindest genauso schlecht.

"Jeder hat Probleme, mit denen er sich im Leben auseinander zu setzen hat."

"Ich kann dir ein Buch empfehlen, dass mir half, meine selbstzer- stoererische Sicht der Dinge abzubauen: "Man's Search for Meaning" von Victor Frankle. Er war ein juedischer Arzt, und musste mitansehen, wie seine ganze Familie im Konzentrationslager umkam, und er selbst ueberlebte mehrere Jahre KZ-Haft. Ich dachte, ich haette es schwer - bis ich diese Lebensgeschichte kennenlernte. Die Tatsache, dass er nach allem, was er erleben musste, doch noch das Leben liebte, ist an sich schon begeisternd."

"Du hast nicht mal die Haelfte der Scheisse erlebt, die ich durchgemacht habe. Meine Familie war arm, ich hatte keinen Beruf und keine Zukunft, aber ich hab's gepackt. Ich habe niemals an Selbstmord gedacht."

Entgegnung:

Dieses Argument kann man auch umdrehen. Warum stellen wir keinen Vergleich mit Leuten an, denen es *besser* als uns geht ? Warum ist die Existenz von Leuten, die weniger gluecklich als wir sind, aber noch leben, ein Grund, dass auch wir leben sollten ? Vielleicht ist die richtige Schlussfolgerung die, dass jene ungluecklichen Leute auch Suizid begehen sollten und zwar je frueher je besser - denn irgendwann geht es ihnen noch schlechter. Suizid wuerde ihrem Elend ein Ende machen, aber wenn sie dumm genug sind, weiterleben zu wollen, dann ist das ihre Entscheidung...

Wenn jemand ungluecklich genug ist, um Suizid zu begehen, warum sollte dann ein Vergleich ploetzlich die Dinge besser erscheinen lassen ? Vermutlich ist das der Punkt, den das Vergleichsargument versucht zu machen: Denk an die Zeit bevor du geboren warst. Theoretisch koenntest du in einem beliebigen Koerper eines der damals geborenen Babys auf die Welt gekommen sein. Du koenntest in Afrika geboren worden sein und waerst verhungert, du koenntest in einem Land geboren worden sein in dem die fundamentalen Menschenrechte verletzt werden. Aber du bist es nicht. In dieser riesigen Lotterie hast du ein ziemlich gutes Los gezogen. Macht dich das nicht gluecklich ? Du bist in einer ziemlich guten Lage!!

Doch diese Art des Denkens hilft nicht weiter. Wir haetten doch eine bessere Wahl in der Lotterie haben koennen. Der Grund, warum das Vergleichsargument uns wirklich besser fuehlen laesst, haengt damit zusammen, wie unser Hirn funktioniert. Dies wird in der Evolutionspsychologie wissenschaftlich untersucht [2]. Unsere Gefuehle haben sich zu dem einzigen Zweck entwickelt, unsere Gene der naechsten Generation weiterzureichen. Und der Erfolgsgrad jedes Individuums haengt von seinem Zustand im Vergleich zu seinen Artgenossen ab. Individuen, die weniger gluecklich sind, werden mit unguten Gefuehlen "gestraft", die sie antreiben, ihren Zustand zu verbessern und die Fortpflanzungschancen zu erhoehen.

In der heutigen Zeit sind solche Gefuehle eine Last. Die Flexibilitaet unseres Gehirns erlaubt es uns ueber die natuerliche Auswahl hinauszudenken. Unser Ueberleben und die Chance, Nachkommen zu haben, haengt nicht von unserem Erfolg gemessen an anderen ab.

Um Beispiele fuer die Eigenheiten des Vergleiches anzugeben, nehmen wir einmal eine Welt an, in der jeder blind ist. Das waere dann die Norm und niemand waere darueber ungluecklich. Zweitens nehmen wir mal eine Welt an, in der jeder Fluegel haette (fliegen ist eine gute Moeglichkeit Verkehrsstaus zu verhindern). Hier haetten Menschen ohne Fluegel (zB. wir) augenfaellige Nachteile... zB. braeuchten wir grosse, teure Vehikel namens "Autos" um an einen Ort zu kommen. In so einer Welt waeren wir weniger gluecklich obwohl sich an uns selbst nichts veraendert hat. Unsere Situation hat sich nur in Bezug zu den anderen verschlechtert. ("Hey Kumpels, habt ihr diesen lahmen, fluegellosen Taugenichts gesehen? Ja, das war vielleicht ekelhaft ...")

Dies kann man auch aus der Geschichte lernen. Koenig Salomo war reich, weise, maechtig und hatte 1000 Ehefrauen (wie gross ist die Chance, dass 1000 Frauen in der gleichen Nacht Migraene haben ? ;-) ), aber wenn er den Lebensstandard von heute sehen wuerde, waere er wahrscheinlich neidisch ("Ich liebe diese Essen...wie nennt ihr das ? ein Big Maec ?"). Auf gleiche Weise koennten wir auf die Menschen in der Zukunft neidisch sein. Im Vergleich dazu ist unser Lebensstil primitiv.

Ein Vergleich ist kein logisches Argument, er verbessert den gegenwaertigen Zustand nicht. Er mag dich momentan besser fuehlen lassen, aber das funktioniert nicht bei jedem. Der Punkt ist der, dass wenn er dich nicht besser fuehlen laesst, bedeutet das nicht, dass du falsch liegst. Verschiedene Menschen koennen in der gleichen Situation unterschiedliche Gefuehle haben. Man kann nicht mit Gefuehlen argumentieren.

3.2 Das Aufschub-Argument

"Begehe nicht sofort Selbstmord, du kannst es immer noch spaeter tun. Eine so wichtige Entscheidung solltest du aufschieben."

Entgegnung:

Es ist tatsaechlich eine wichtige Entscheidung. Jedoch ist keine Entscheidung zu treffen, auch eine Entscheidung. Naemlich eine mit einer graesslichen Konsequenz: du leidest weiterhin an dem, was dich primaer zur Ueberlegung eines Suizids gefuehrt hat.

3.3 Es gibt Hoffnung

"Du bist erst 20, dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Es wird noch viel geschehen."

Entgegnung:

Es stimmt, die Moeglichkeit, dass ich gluecklich werde koennte, existiert. Fuer manche ist sie ziemlich gering, aber nichtsdestotrotz eine Chance. Irgendwann koennte in der Zukunft moeglicherweise ein zukuenftiges Ich existieren, das das Leben liebt und das meinen Selbstmord bedauert haette. Der Haken an der Sache ist allerdings, dass ein Selbstmoerder keine Zukunft hat.

Es gibt genau vier Moeglichkeiten:


    Wenn du am Leben | Wahrschein- | Du entscheidest dich zu
    bleibst:         | lichkeit    |  leben         sterben
                     +-------------+-------------------------
    bleibt es gleich |     p       |   -1              0
                     |             |
    wird es besser   |    1-p      |    1              0

Das ist natuerlich eine sehr starke Abstraktion des Problems [6], aber vielleicht koennen wir daraus etwas lernen. Die Zahlen in der Tabelle zeigen an, wie gut die jeweilige Kombination der Moeglichkeiten (in Bezug zu den anderen) aus der Sicht eines Individuums, das sich vor solch ein Dilemma gestellt sieht, ist. Diese Werte beanspruchen keinesfalls in irgendeiner Hinsicht praezise zu sein. Die "sterben"-Spalte enthaelt in beiden Zeilen den gleichen Wert, denn wenn jemand stirbt, macht es fuer ihn keinen Unterschied, wie sein Leben gewesen waere, wenn er sich zum Weiterleben entschieden haette. Suizid erweist sich stets als lediglich mittelmaessiges Ergebnis ( 0 ), wenn es jedoch jemand nicht fuer moeglich haelt, dass sich sein Leben verbessern wird, erhoeht sich dessen Wert.

Ein Suizid-Gegner wuerde betonen, dass die Chancen, dass das Leben besser wird, doch recht hoch sind. Aber mal ehrlich, niemand weiss was geschehen wird, wieso also nicht lieber auf die sichere Karte setzen ? Eine Diskussion fuehrt hier zu nichts, es gibt einfach zu viele beeinflussende Umstaende. Wie wird sich dein Leben wenden ? Was sind die "wahren Werte", die man in der Tabelle auffuehren muesste ? Hoechstwahr- scheinlich ist es unmoeglich, diese Fragen zu beantworten.

Um die Sache interessant werden zu lassen, schlage ich ein kleines hypothetisches Gedankenspiel vor: angenommen mein "zukuenftiges Ich" sei in einer Zeitreise zu meinem jetzigen Ich gekommen, um mich von meinem Suizidvorhaben abzubringen.

Gewoehnlich rede ich ja nicht mit meinem zukuenftigen Ich ... aber kann man ernsthaft einen besseren Gegner finden ? Es ist die einzige Instanz, die tatsaechlich das Ergebnis der Tabelle kennt, und die einzige Person, die wirklich will, dass ich weiterlebe.


   Zukuenftiges:"Das haette ich nicht zu traeumen gewagt, dass das Leben
   Ich          so grossartig sein kann. Bitte bring dich nicht um.
                Wenn du es nicht tust, wirst du wie ich fuehlen.
                Ich verspreche dir, es ist phantastisch."
   Ich:        "Naja, du hast leicht reden. Du hast die ganze Scheisse
                weit hinter dir. Was kuemmert es dich schon, was ich
                alles durchmachen muss, bevor ich so werde wie du.
                Du bist am Ende der Durststrecke, die *Ich* aber erst
                noch durchleiden muesste. Warum sollte ich das denn bitte
                fuer dich tun ?"
   Z-Ich:      "Aber ich *bin* du."
   Ich:        "Nein, bist du nicht. Du bist mein zukuenftiges Ich."
   Z-Ich:      "Aber du koenntest bald so werden wie ich..."
   Ich:        "Ist es denn das Leiden wert, das ich ertragen muss,
                bevor ich dich werde ?"
   Z-Ich:      "Es wird nicht lange dauern und dann wirst du nicht mehr
                leiden, versprochen. Ich erinnere mich noch gut
                daran, wie ich du war. Der abrupte Wechsel hat mich
                ueberrascht. Ich bin froh am Leben zu sein, damit ich
                dir das sagen kann."
   Ich:        "Das ist sehr ruehrend, aber kann ich dir auch glauben ?
                Du kuemmerst dich doch einen Scheiss um meine Gefuehle.
                Alles was dich interessiert, ist doch dass du in deinem
                gluecklichen Zustand weiterexistieren kannst. Du weisst ganz
                genau, wenn ich mich umbringe, wirst du auch verschwinden.
                Was kuemmerst du dich darum, wie es mir geht bevor ich du
                geworden bin ? Das hast du doch schon laengst hinter
                dir ?"
   Z-Ich:      "Mann, Ich mach mir halt Sorgen ! Wir koennen uns ja
                gemeinsam durch den Schlammassel kaempfen !"
   Ich:        "Es gibt kein 'gemeinsam' bei uns beiden, wir sind
                praktisch Rivalen. Obwohl wir einige gemeinsame Ziele
                verfolgen, konkurrieren wir um Ressourcen. Vermutlich
                erwartest du von mir, dass ich sparsamer lebe, Sport
                treibe und eine Diaet mache bis ich dich werde. Und
                obwohl wir beide davon profitieren wuerden, bin doch ich
                allein es, der dafuer bezahlt."
   Z-Ich:      "Wie nun, wirst du also durchhalten ?"
   Ich:        "Moeglicherweise. Es ist meine Entscheidung."
   Z-Ich:      "Andernfalls ist es Mord. Du wirst mich dann toeten."
   Ich:        "Nein, ich werde *mich* toeten ! *Du* bist dann niemals
                gewesen."
   Z-Ich:      "Aber das *ist* Mord. Du toetest eine andere Person.
                Du hast ja selbst gesagt, dass wir nicht ein und
                derselbe sind."
   Ich:        "Wie kann ich jemanden ermorden, der niemals lebte ?
                Wie kannst du irgendwelche Rechte beanspruchen, der du
                niemals gelebt hast ?
                Abgesehen davon, ich bin derjenige, der jetzt am
                Druecker ist und ich werde entscheiden, was mit mir
                geschieht. So laeuft's im Leben."
   Z-Ich:      "Aber das ist Diskriminierung der zukuenftigen Menschheit!"
   Ich:        "Ja, das ist es...
                Mir ist schon klar, dass das traurig ist...
                Ich habe aber keine Loesung fuer dich...
                Bitte weine nicht...
                Hast du schon mal ueber Selbstmord nachgedacht ?"

Diese Diskussion zeigt, dass die alleinige Tatsache, dass sich das Leben bessert, nicht genug ist. Es ist auch wichtig zu wissen, wann und fuer wie lange dies geschieht. Moeglicherweise wird es ja danach wieder schlechter. Um praezise die "Gutheit" des Lebens ueber eine bestimmte Zeitperiode hinweg zu messen, sollten wir Werte fuer die Gutheit jedes einzelnen Punktes in dieser Zeitspanne vergeben und sie dann zusammenrechnen. Die Werte der einzelnen Zeitpunkte koennten positiv oder negativ sein, und dementsprechend wird es auch das Ergebnis sein. Die genaue Wesenseigenschaft von "Gutheit" kann hier nicht definiert werden. Sie wird von Person zu Person verschieden bestimmt.

So koennten auch die Werte in der Tabelle zusammengerechnet werden. Wir wissen, dass diese Werte unmoeglich zu finden sind, aber angenommen eine freundliche Fee wuerde uns die Werte mitteilen. Was koennen wir mit dieser Information anfangen ?

Ganz intuitiv koennte man die Wahrscheinlichkeit jeder Moeglichkeit berechnen. Dann waehlt man diejenige Aktion - Leben oder Tod - mit der groessten Aussicht auf Gutsein. Die Wahrscheinlichkeit einer Aktion berechnet man, indem man die Produkte von Wahrscheinlichkeit und ihren korrespondierenden Gutheitswerten summiert.

Natuerlich ist das nur ein einfaches Beispiel der Wahrscheinlichkeits- rechnung. Aber wir haben daran gesehen, dass selbst dieses einfache Modell die Wahlfreiheit nahelegt.

In unserer Tabelle gab es nur zwei moegliche Ausgaenge (das Leben wird besser oder bleibt gleich) und zwei moegliche Entscheidungen (leben oder sterben). Jetzt wollen wir mehrere Ausgaenge annehmen, ja sogar unendlich viele. Nehmen wir mal folgende zwei Lotterien an:


                 A             |            B
                               |
      Wahrschein-  Gewinn      |  Wahrschein-    Gewinn
         lichkeit              |     lichkeit
      -----------  ----------- |  -----------  ----------
          100%     50,000,000E |      50%        2 Euro
                               |      25%        4 Euro
                               |      12,5%      8 Euro
                               |      ...        ...
                               |      1/2**i     2**i
                               |      ...        ...

Beide sind unrealistisch, denn man kann ja nur gewinnen. Aber wichtig ist hier allein die Frage, welche der beiden Lotterien vielversprechender ist. Angenommen jemand bietet dir an, an einer der beiden Lotterien teilzunehmen. Welche wuerdest du spielen wollen ? In Lotterie A gewinnst du garantiert 50 Millionen Euro in Bar ! Die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen ist 100%, das scheint kaum zu ueberbieten. Lotterie B ist etwas raffinierter. Die Wahrscheinlichkeit 2 Euro zu gewinnen ist 50%, fuer 4 Euro liegt sie bei 25% und so weiter. Es gibt unendlich viele Reihen in Lotterie B, daher ist hier der groesste Preis garantiert viel viel hoeher als in Lotterie A. Ein einfaches Computerprogramm kann die Richtigkeit dieser Unendlichkeit erweisen. Wenn man die Wahrscheinlichkeiten addiert, erhaelt man eine unendliche Summe:

0.5*2E + 0.25*4E + 0.125*8E + ... + (1/2**i) * 2**i + ... =

   1   +    1    +     1    + ... +          1      + ... = unendlich

Es zeigt sich, dass Lotterie B eine hoehere Wahrscheinlichkeit als Lotterie A besitzt, aber nicht die bessere Wahl zu sein scheint. In Lotterie B ist die Wahrscheinlichkeit, 50 Millionen Euro oder mehr zu gewinnen annaeherungsweise 1 zu 50.000.000, aber die Wahrscheinlichkeit, 8 Euro oder weniger zu gewinnen, ist 7 zu 8. Es scheint viel klueger, die 50 Millionen von Lotterie A abzustauben und sich aus dem Staub zu machen.

Nehmen wir folgende Lotterien an:

                 C             |            D
                               |
      Wahrschein-  Gewinn      |  Wahrschein-     Gewinn
         lichkeit              |     lichkeit
      -----------  ----------- |  -----------   ----------
      0.000000001  50,000,000E |      0.01       700 Euro
      0.999999999    500E      |      0.99       600 Euro

Da wir nun klueger geworden sind, wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit kein gutes Entscheidungskriterium ist. Ist eine der Lotterien eine bessere Wahl ? Man koennte sagen, dass der Unterschied von 500 Euro zu 700 Euro nicht bedeutsam ist. Daher spielt man lieber Lotterie C mit der Chance, Millionaer zu werden. Man koennte aber auch sagen, dass die Chancen, die 50 Millionen bei C zu gewinnen zu klein sind und lieber die zusaetzlichen 100 bzw. 200 Euro bei D sicher einsacken.

Beide Begruendungen scheinen rational verstaendlich. Das zeigt, dass es selbst in diesem einfachen Anschauungsbeispiel keine korrekten Antworten gibt. Jeder waehlt, was fuer ihn richtig ist. Und wenn dies fuer dieses banale Beispiel gilt, dann ist es vermutlich auch fuer komplexere und realistischere Probleme gueltig.

4 Pseudo-Psychoanalyse

Diese Klischees analysieren die Gruende, warum Menschen sterben wollen und behaupten dann, dass sie die Tat nicht rechtfertigen. Hier gibt es eine merkwuerdige Parallele zum vorherigen Abschnitt. Dort versuchte der Anti-Suizid Anwalt psychologische Argumente fuer seinen Standpunkt aufzuzeigen. Bei den folgenden Argumenten werden uns psychologische Motivationen fuer den Suizid in den Mund (oder zumindest in die Gedanken) gelegt. Vielleicht sind einge davon fuer manche Menschen wahr. Aber etwas aus den falschen Motiven heraus zu tun -in unserem Falle Suizid- ist nur falsch, wenn die Handlung an sich falsch ist. Diese Klischees hier beschaeftigen sich in keinster Weise mit diesem Aspekt. Menschen koennen gute Taten aus schlechten Beweggruenden und schlechte Taten aus guten Beweggruenden tun.

4.1 Selbstmoerder wollen nur Beachtung erhaschen

"Sie wollen nicht wirklich sterben..."

"Ein 'Suizidversuch' ist schon vom Wort her ein Irrtum. Wir sollten es 'Beachtung heischende Geste' nennen. Wenn jemand wirklich sterben will, kann er eine geeignete Methode waehlen, die auf Nummer sicher geht."

Entgegnung:

Einige Faelle von versuchten Suiziden sind in der Tat aufmerksamkeits- erregende Gesten. Klassische Faelle sind Menschen, die mit ihrer Freundin oder ihrem Freund Schluss gemacht haben, oder Familienernaehrer mit finanziellen Problemen usw. Fang aber nicht an zu denken, alle versuchten Suizide sind solche Gesten, einige sind tatsaechlich dumme Missgeschicke. Vorallem jenen von uns, die nie was richtig geregelt bekommen, passiert das.

4.2 Selbstmord ist der einfache Ausweg

Entgegnung:

Das Klischee impliziert, dass Menschen, die Suizid begehen, die einfache statt der "korrekten" Loesung waehlen. Dieses Klischee verschiebt die Diskussion einfach vom wahren Thema weg - naemlich, ob Suizid eine Loesung ist.

Tatsache ist, dass es nicht einfach ist Suizid zu begehen (dieser Punkt wird weiter unten noch behandelt). Wenn jedoch bei einer gegebenen Situation Suizid tatsaechlich die einfachste Loesung ist, dann ist das allein noch keine negative Eigenschaft und schliesst keinen Grund ein, sie nicht zu waehlen. Tatsaechlich ist doch Leichtigkeit gewoehnlich etwas positives. Dreht sich in der westlichen Gesellschaft nicht alles darum, Dinge moeglichst effizient, schneller und leichter zu machen ? Basiert nicht die ganze westliche Gesellschaft auf dem Prinzip der Leichtigkeit ?

4.3 Selbstmord ist eine feige Tat

Entgegnung:

Das ist ziemlich aehnlich zum vorherigen Klischee, aber noch mit einer Spur Laesterei gewuerzt. Zudem ist es eine gefaehrliche Generalisierung. Es gibt viele Gruende fuer Suizid. Offensichtlichstes Beispiel ist der Todkranke, der sich einfach Erleichterung von seinen Schmerzen verschaffen moechte.

Nochmals, Suizid zu begehen benoetigt Mut, und selbst wenn es die am wenigsten mutige Wahl waere, macht es die Tat an sich nicht falsch. Im Krieg mag ein Soldat eine Heldentat begehen nur weil er sich vor der Reaktion seiner Kameraden fuerchtet, wenn er es nicht taete (sich als Killermachine zu benehmen ist Teil der militaerischen Ausbildung). Hier wurde eine gute Tat durch eine scheinbar schlechte Motivation (Feigheit) verursacht. Die Tat benoetigt auch Mut, aber wohl weniger als seinen Kameraden in die Augen zu sehen, wenn man es nicht getan hat.

5 Sinnlose Klischees

Die folgenden Abschnitte enthalten die ueblichen Zeilen, wie sie in vielen Postings erscheinen, die ich aber nicht einzuordnen wusste.

5.1 Selbstmord ist keine Loesung

Entgegnung:

Natuerlich ist es eine Loesung. Eine Loesung ist eine Handlung, die einen Zustand mit Problem in einen anderen Zustand ohne dieses Problem ueberfuehrt. Daher loest jemand, der Suizid begeht seine Probleme (tatsaechlich sogar alle auf einmal), schafft evtl. jedoch auch neue Probleme fuer andere Menschen; aber das ist ein anderes Thema.

Was die Leute vermutlich wirklich meinen, wenn sie dieses Klischees aeussern, ist allerdings etwas komplizierter. Sie meinen naemlich damit, dass Suizid nicht im moeglichen Denkhorizont bzw. moralischen Rahmen der Gesellschaft liegt.

Das ist so aehnlich, wie wenn jemand eine Knobelaufgabe mit einer originellen Loesung beantwortet. Zb. wenn es um die Ueberquerung eines Flusses mit begrenzten Mitteln geht, und jemand versucht das Problem zu loesen indem er vorschlaegt "Man koennte den Flus mit einem Hubschrauber ueberqueren.". Von einem Hubschrauber war aber nirgends die Rede, so dass jemand sagen koennte "das ist keine Loesung", weil der vorgegebene Loesungshorizont ueberschritten wurde. Normalerweise soll man ja Knobelaufgaben nur mit den vorgegebenen Gegenstaenden loesen.

Die Gesellschaft hat ihren eigenen Wertehorizont. Wenn er ueberschritten wird, werden einige Leute sagen "das ist keine Loesung".

Aber das wirkliche Problem dieses Klischees ist wohl, das Problem herauszufinden zu dem Suizid eine bzw. keine Loesung ist. Natuerlich gibt es viele Probleme, die Suizid nicht loest, islamischer Fundamentalismus oder globale Erderwaermung um nur zwei zu nennen. Wenn das Problem "Glueck finden" heisst, dann ist Suizid keine Loesung, aber wenn es "Schmerz beenden" heisst, dann ist er eine Loesung. Wenigstens sollte uns zugestanden werden, unsere Probleme selbst zu bestimmen.

5.2 Es ist einfach, Selbstmord zu begehen

"Wenn jemand wirklich sterben will, koennte er ja einfach eine geeignete Methode waehlen, die die Sache zum sicheren Ende bringt (z.B. sich mit einer Schrotflinte den Hirnstamm rausschiessen, was sehr geringe Ueberlebenschancen garantiert)."

Entgegnung:

Es sind drei Phasen notwendig um Suizid zu begehen. Jede einzelne von ihnen impliziert Probleme:

  1. - Beschaffung lebensbeendender Mittel

    Was denkst du, wieviele Leute wirklich eine Schrotflinte zur Hand haben ? Haettest du etwa gerade eine parat ?

    Brauchbare Medikamente/Gift in toedlicher Menge sind nur den wenigsten zugaenglich (zB. Apothekern, Chemikern). Beachte auch, dass die Beschaffung lebensbeendender Mittel je nach Wohnort sehr erschwert ist (zB. der Waffenerwerb ausserhalb der USA).

  2. - Richtige Anwendung der lebensbeendenden Mittel

    Schusswaffen sind so unzuverlaessig... die meisten Leute denken, sie toeten schnell...aber was, wenn du nicht genug Hirnmasse getroffen hast und nicht stirbst ? Wolltest du etwas den Rest deines Lebens als lallender Gemuesefresser verbringen ?

    Und das schlimmste von allem ist, dass man nach einem Fehlversuch wahrscheinlich nie wieder die Moeglichkeit eines zweiten Vesuches haben wird...

    Beim Gebrauch von Medikamenten/Giften musst du die richtige Dosis und Einnahmeform kennen, die die maximale Sterbechance verspricht. Sehr leicht erbricht man sich oder wird von Freunden "gerettet".

  3. - Die psychische Barriere ist zu ueberkommen

    Es ist bei Leibe nicht einfach, sich zu toeten. Denn es ist einfach gegen unseren Instinkt. Wir sind von Natur aus programmiert, den Tod zu fuerchten. Und selbst wenn wir es schaffen, dem vermaledeiten Lebenstrieb ein Schnippchen zu schlagen, ist und bleibt es verdammt schwierig, den letzten Schritt zu tun: Springen, den Abzug druecken oder die toedlichen Pillen runter zu schlucken.

    Von den drei Phasen ist dies die am schwersten zu beschreibende. Besonders deshalb, weil einige Methoden (zB. irgendwo runterspringen) theoretisch sehr leicht auszufuehren sind (dh. die beiden ersten Phasen sind relativ leicht), aber dennoch sind viele Menschen unfaehig sie bis zum Ende durchzuziehen. Die folgenden Abschnitte geben nur einige Faktoren wieder, die fuer die psychologische Barriere verantwortlich sind:

    Es gibt grosse Gefahren beim Suizid, die ziemlich furchteinfloessend sind. Vorallem ist da das Risiko eines langsamen, dahinsiechenden Todes. Dies fuerchtet wohl die Mehrheit aller Menschen am meisten. Da es wahrscheinlich ist, dass die sich suizidierende Person sich nicht in einer Situation befindet, in der sie faehig ist die eigenen Schmerzen zu mildern, und die Tatsache, dass Suizid gewoehnlich in Einsamkeit vollzogen wird, sodass niemand anderes da ist, der helfen kann, kann es passieren, dass der Suizidaer bis zu seinem Ende hilflos dahinleidet.

    Es gibt natuerlich Methoden, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie zum sofortigen Tod fuehren. Aber das heisst eigentlich nur, dass das Risiko *relativ* gering ist. Eine 100%ige Garantie gibt es nie. Angesichts der moeglichen Schmerzen, und seien sie auch noch so gering, laehmt viele dieses stets vorhandene Risiko.

    Und dann ist da noch die Gefahr, dass man ueberlebt und die Situation moeglicherweise dann schlimmer als zuvor ist. Das kann so natuerlich besonders bei Methoden die Verletzungen verursachen sein. Man ist dann eventuell rein koeperlich nicht in der Lage, einen weiteren Versuch unternehmen zu koennen, und waere so gezwungen in einer wesentlich schlimmeren Situation leben zu muessen als zuvor; naemlich wahrhaft jeder Fluchtmoeglichkeit beraubt. Damit kann verbunden sein, dass Familie und Freunde dir nun anders ins Gesicht sehen bzw. dich behandeln, schlimmstenfalls sogar den Kontakt mit dir ganz abbrechen. Im allerschlimmsten Fall koennte es dir passieren, dass dich jemand zu einer psychatrischen Behandlung zwingt.

    Das Risiko ist aber nicht der einzige abschreckende Faktor. Ueblicherweise hat man bei jedem riskanten Unternehmen in irgendeiner Form professionelle Unterstuetzung, zB. einen Arzt oder einen Bungyjump-Lehrer, der nicht nur die Sicherheit der Ausruestung garantiert, sondern auch bei der Ausfuehrung des Unternehmens Schritt fuer Schritt behilflich ist und auch psychologische Unterstuetzung gibt. Kannst du dir etwa vorstellen zu einem Psychologen zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten, dir die Angst vor dem Suizid zu nehmen ? Keinerlei Beistand ist moeglich wenn es um den eigenen Tod geht, und das macht das Unternehmen wesentlich schwieriger.

    Es gibt sehr wenige Identifikationsfiguren fuer Suizid. Man sieht im Fernesehen oder live gelegentlich Leute, die Bungee springen. Allein diese Tatsache, dass man andere Leute es tun sieht, macht es erheblich leichter es ihnen nachzumachen. Kennt man eine Vorreiterrolle wirkt sich das auf die eigene Faehigkeit Suizid zu begehen aus. Das ist durch das Phaenomen der Nachaeffer-Suizide belegt. Was glaubst du, warum in manchen Schulen ueber Suizid nachgedacht und diskutiert wird kurz nachdem ein Schueler sich selbst getoetet hat ? Koennte es nicht etwa deshalb sein, weil dem einen selbstgetoeteten Schueler oft eine Reihe weiterer folgen ?

    Ein weiterer Faktor ist jedoch mit den gesellschaftlichen Normen verbunden. Es ist viel schwieriger etwas zu tun, was die Gesellschaft ablehnt. Hier ist groesstmoeglicher Mut gefragt. Unser ganzes Leben hindurch sind wir dazu erzogen worden, konform zu gehen. Einige Menschen moegen es schwierig finden in irgendeiner Weise "rebellisch" zu sein, und sei ihre Unterwerfung unter die Gesellschaft noch so unvernuenftig.

    Es gibt wahrscheinlich noch mehr Faktoren, aber wir koennen die Schwierigkeit Suizid zu begehen mit der am Leben zu bleiben -um die Situation, die zum Suizidwunsch fuehrt, positiv zu veraendern-, vergleichen. Da gibt es Risiken wie zB. in die Faenge einer Institution zu geraten oder an Nebenwirkungen medikamentoeser Behandlung zu leiden. Aber es scheint die Risiken eines Suizids sind hoeher. Man bekommt mehr Beistand von Psychologen, Freunden und Familie wenn man versucht, seine Lebenssituation zu verbessern. Dazu gibt es auch reichlich Vorbildfiguren. Und schliesslich ist eine Behandlung mit der gesellschaftlichen Norm konform. Es scheint, dass -zumindest den hier genannten Faktoren entsprechend- Suizid tatsaechlich eine schwierig zu faellende Entscheidung ist.

5.3 Leben ist das einzige Gut, das du hast

"Mag das Leben auch bedrueckend sein, es ist alles was wir haben. Wie kann man es nur fuer nichts achten und aus dem Fenster schmeissen ?"

Entgegnung:

Leute, die dieses Klischee vorbringen, uebertragen einfach die individuelle Geistesverfassung auf ... sagen wir: den nicht negativen Wert. Sie setzen den Tod = 0 und alles andere ist positiv. Die Analogie scheint logisch, sofern wir gestorben nicht mehr existent, Null und Nichts sind. Das Problem dabei ist aber, dass hier physischer und geistiger Zustand durcheinander gebracht wird. Niemand kann eine negative Anzahl von Koerpern haben, aber wieso kann man dann den geistigen Zustand (welcher der entscheidende ist) auf einen nicht negativen Wert uebertragen ? Gibt es geistige Zustaende, die schlimmer sind als der Tod ? Ich denke ja, aber es gibt keinerlei Moeglichkeit, dies zu beweisen.

5.4 Selbstmord ist wider die Natur

... von Natur aus liebt sich alles selbst, daraus folgt, dass alles sich selbst von Natur aus am Leben zu erhalten sucht und so weit als moeglich Beschaedigungen widersteht. Deshalb ist Selbstmord gegen die Neigung der Natur ... und daher ist Selbstmord immer eine Todsuende, denn sie ist wider das Gesetz der Natur
THOMAS VON AQUIN [5], Summa Theologica II-II, 64,5

Entgegnung:

Es stimmt nicht, dass alle Dinge von Natur aus die Selbstzerstoerung vermeiden. Es ist ein bekanntes Phaenomen, dass Wale an der Kueste stranden und zu guter Letzt sterben. Das scheint nicht einfach ein Unfall zu sein.

Desweiteren neigen auch manche Menschen von Natur aus dazu, sich zu toeten. Z.B. Menschen, die an unertraeglichen Schmerzen leiden und todkrank sind.

Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass eine Handlung, die gegen jemandes Natur strebt, nicht zugleich auch unmoralisch oder ungesetzlich ist. Ein Ohrring ist ziemlich unnatuerlich und auch scherzhaft, dennoch fuer Frauen (und zunehmend auch fuer Maenner) in den meisten Laendern akzeptiert.

5.5 Nun, wie kommt es, dass du selbst noch immer am Leben bist ?

"Wenn du dich WIRKLICH toeten wolltest, waerst du schon laengst tot. Die Tatsache, dass du immer noch am Leben bist beweist, dass du nicht wirklich sterben willst."

Entgegnung:

Wir alle wollen eine Menge Dinge. Wenn wir sie nicht kriegen, bedeutet das nicht notwendigerweise, dass wir sie nicht primaer wollen.

Beispielsweise wollen wir alle reich sein, einen perfekte Koerper haben und gluecklich sein. Nun, warum sind es manche immer noch nicht ? Um reich zu werden, koenntest du dein eigenes Geschaeft eroeffnen. Um einen perfekten Koerper zu bekommen, koenntest du Sport treiben, eine Diaet machen und mit etwas plastischer Chirurgie nachhelfen. Um gluecklich zu sein, muesstest du dich einfach so akzeptieren, wie du bist und dein Leben so gut wie moeglich ausleben. Es ist einfach. Ich verstehe also wirklich nicht, warum wir nicht alle reiche, glueckliche, perfekte Bastarde sind ?

Aber wir wissen nur zu gut, dass es nicht wirklich so einfach ist. Du kannst alles fuer dein Geschaeft aufopfern und trotzdem pleite gehen. Ein perfekter Koerper kostet viel Geld und Ausdauer. Und man kann nicht auf Knopfdruck gluecklich sein. Suizid ist auch nicht einfach, und hat seine eigenen Risiken, aber da ist noch mehr als das. Es sind nicht nur die Schwierigkeiten und Risiken, die uns von unseren Zielen abkommen lassen.

Wie schon erwaehnt, wollen wie mehrere Dinge auf einmal. Manche von ihnen widersprechen indirekt anderen. Du muesstest eine betraechtliche Menge an Zeit investieren, um reich zu werden oder den perfekten Koerper zu bekommen; du wirst kaum fuer beides genug Zeit haben. Andere Widerspruechlichkeiten sind offensichtlicher. Z.B. gibt es gute Gruende zu heiraten wie auch dafuer, Single zu bleiben. Die Ehe bietet Sicherheit, Intimitaet und Sex ohne Kondom; wohingegen das Singleleben mehr Freiheiten und taeglich wechselnde Sexpartner gewaehrt. Die Tatsache, dass sich jemand zur Heirat entscheidet, bedeutet nicht zugleich, dass er nicht auch gleichzeitig gerne Single waere. Jedoch kann er nur eine dieser Optionen waehlen. Jemand mag Single bleiben, aber diese Option nicht praktisch erwaegen. Sowohl verheiratet und Single sein zu wollen, ist kein Problem. Der Widerspruch tritt erst zutage, wenn man eine der Moeglichkeiten verwirklichen moechte.

Manche Menschen wollen sterben. Dies widerspricht praktisch jeder anderen Sache, die sie wollen. Sie wollen gluecklich sein. Sie wollen, dass ihre Familie und Kinder gluecklich sind, sie wollen lieben und geliebt werden, aber sie wollen *auch* sterben.

Ausserhalb von ash wird suiziden Menschen erzaehlt, sie sollen ihre selbstzerstoererischen Gedanken unterdruecken. Sterben zu wollen ist einfach keine anerkannt gueltige Sache. In ash ist der Sterbewunsch auf einer Ebene mit anderen Wuenschen und wird auch so behandelt. Wir diskutieren ueber Liebe, Leben, Freude, aber auch ueber Suizid, Drogen und Methoden.

Ash dreht sich nicht einfach nur um Suzid. Es geht um das Leben und seine Wahlmoeglichkeiten. Suizid ist nur eine davon. Wir wollen moeglicherweise Suizid begehen, aber wir moechten es noch nicht tun.

Wir leben noch, weil es definitiv *nicht* leicht ist, Selbstmord zu begehen. Er birgt grosse Risiken und widerspricht vielen anderen Dingen, die wir fuer uns und andere wollen; aber wenn wir unsere Leben zu beenden wuenschen, ist/liegt es an uns, damit zu leben oder zu sterben.


Anmerkungen

[1] David Hume, Essays on Suicide and the Immortality of the Soul, 1783 gopher://unix1.utm.edu:70/00/departments/phil/hume/writings/suicide.txt

[2] Robert Wright, The Evolution of Despair, TIME Magazine August 28, 1995 Volume 146, No. 9 http://pathfinder.com/time/magazine/domestic/1995/950828/950828.cover.html

[3] Alt.Atheism FAQ: Constructing a Logical Argument http://www.cis.ohio-state.edu/hypertext/faq/usenet/atheism/logic/faq.html

[4] The Oath, Hippocrates, 400 B.C
http://the-tech.mit.edu/Classics/Hippocrates/hippooath.sum.html

[5] St. Thomas Aquinas, Summa Theologica II-II, 64,5
http://www.knight.org/advent/summa/306405.htm

[6] Fred Feldman, Confrontations with the Reaper, Oxford University Press, 1992

Danksagungen

Viele der Klischees und Entgegnungen sind Postings in ash entnommen. Ich habe versucht jeden zu erwaehnen, dessen Ideen/Text ich benutzt habe: Last Year's Man, xopher, steward, chrisleonard, Tiffany H., JDD(Jeff), transhumanist, Mark M. Besonderen Dank an Skito und xopher fuer ihre Anmerkungen. Grossen Dank schulde ich auch Schop fuer seine Kommentare und HTML-Ratschlaege. Zuletzt moechte ich -=Falcon=- dafuer danken, die ash FAQ und Webseite initiiert zu haben, und Ferric dafuer, dass er sie pflegt/aufrecht erhaelt. Falls du meinst, hier erwaehnt werden zu sollen, schick mir bitte eine Mail.

[Uebersetzung ins Deutsche: mr_lebensekel ]

Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, dies zu lesen.

Last update: Tuesday, October 29, 2001 23:00


back next