Im Oktober 2001 erhielt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS), Prof. Felber, eine Anfrage des BMBFS ein Schreiben mit einer Reihe von Fragen zu den sog. "Suizidforen" im Internet mit der Bitte um Stellungnahme. Da dieses Thema in der DGS noch nicht diskutiert wurde, bat Prof. Felber einige Vorstandmitglieder, die sich mit der Thematik Internet befassen um eine persönliche Stellungnahme. Im November gab es eine Diskussion der Fragen und Stellungnahmen im Kinderausschuss des Bundestages. Die Stellungnahme lag den Ausschussmitgliedern vor.
[Eckige Klammern] weisen Kommentar von einem ASHer zur anfänglicher Stellungnahme hin. | For an English translation of this article, please go here |
Georg Fiedler und Reinhard Lindner
Forschungsgruppe Suizidalität und Psychotherapie des Therapie-Zentrums für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Die öffentliche Diskussion über Suizidforen im Internet wurde durch den Suizid einer 17-jährigen Österreicherin und eines 20-jährigen Norwegers durch den Sprung von dem 600 Meter hohen Cliff "Prekestolen" - einer bekannten Attraktion im norwegischen Fjord-Distrikt - in Gang gesetzt. Die beiden sind über Diskussionsgruppen zum Thema Suizid im Internet in Kontakt gekommen. Der junge Mann hat in Beiträgen dieser Diskussionsgruppen dazu eingeladen, mit ihm gemeinsam Selbstmord zu begehen. Aus den Antworten mehrerer junger Frauen wählte er die Österreicherin aus, die schließlich seiner Einladung nach Norwegen folgte und mit ihm in den Tod sprang.
Dieses Ereignis wurde ausführlich in fast allen Medien dargestellt, wobei die Verabredung zum Suizid via Internet den "sensationellen" Mittelpunkt der Berichterstattung bildete. Das Internet erhielt damit unspezifisch die Konnotation des potentiell Tödlichen und Gefährlichen. In der Folgezeit richtete ein auf eher reißerische Berichterstattung orientierter Journalismus sein Augenmerk auf die z. T. schon sehr lange bestehenden Diskussionsforen, Mailinglisten und Webseiten. Der vorläufige Höhepunkt war die Berichterstattung im Spiegel und Spiegel-TV.1 Diese Art der Berichterstattung war insofern höchst problematisch, als dass sie letztlich nicht auf Gefahren, sondern auf die Möglichkeiten des Mediums hinwies, sich Informationen über Suizidmethoden zu verschaffen. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) überarbeitet derzeit Medien-Guidelines und veranstaltet im Frühjahr eine Tagung, in denen sie auf diese Problematik auch eingehen wird.
1 Mit der journalistischen Herangehensweise an dieses Thema haben wir insofern Erfahrung, als das auch ein Mitarbeiter unseres Zentrums vom Spiegel-TV interviewt wurde. Die interviewende Journalistin insistierte massiv auf ein simplizistisches Statement in Richtung "Todesfalle Internet" - welches sie allerdings nicht erhielt. Die im Interview vorgetragenen mäßigenden und differenzierten Statements wurden in der Berichterstattung nicht aufgenommen. Sie waren nicht erwünscht.
Viele Beiträge in den Medien über das "Suizidrisiko Internet" gehen von mehreren Fehlannahmen, ungeprüften Annahmen und unzulässigen Generalisierungen von Einzelfällen aus. Exemplarisch lassen sie sich an einem Beitrag von Solveig Prass (Prass 2000) aufzeigen, die sich in der Diskussion um die Suizidforen sehr engagiert.
Fehlannahmen sind:
Ungeprüfte Annahmen sind:
Die Diskussion über den Umgang mit Suizidforen im Internet sollte auf eine sachliche Basis gestellt werden. Die Kontroverse zum Internet lässt sich kurz in einem Bild ausdrücken: Ist das Internet ein Hammer oder eine Lupe? Erzeugt das Internet die Suizidalität vonJugendlichen (und auch Erwachsenen), oder macht es bestehende Probleme und Subkulturen erst sichtbar. Wir neigen dazu, die Frage in Richtung der Lupe zu beantworten.
Ohne großen Aufwand kann man derzeit im deutschsprachigen Internet um die 10 webbasierende Suizidforen finden (selbstmord.de, Freitod.de, ErwachsenenforumSuizid, OffenesSuizidforum, selbstmordhilfe.de, Schwarzer Abgrund, suicidaldreams, Hilfeforum,SuizidforumSoulfly, träumerforum), die z.T. auch Mailinglisten und Chats anbieten. Im UseNet haben wir keine deutschsprachige Gruppe unter den Stichworten Suizid/Selbsmord/Freitod gefunden. Nicht zu überblicken sind die Netze des Internet Relay Chat (IRC), auf denen adhoc Chats unter einem Namen gebildet werden können. Darüber hinaus gibt es eine uns unbekannte Anzahl von nicht interaktiven Pro-Suizid Web-Seiten mit Hinweisen auf Suizidmittel und Methoden.
Die Suizidforen scheinen sich in ihrer Haltung zum Suizid und der Art der Diskussion zu unterscheiden. Während in einigen die Methodendiskussion sehr im Vordergrund stehen,geht es bei anderen eher um den Austausch suizidaler Phantasien, undMethodendiskussionen sind eher unerwünscht. Mehrere Foren haben Links zu Seiten mit Suizidmethoden und Suizidmitteln, einige auch zu Hilfsangeboten. Vermutlich das älteste englischsprachige Angebot, die UseNet-Gruppe "alt.suicide.holiday", kurz "a.s.h.", ist das Vorbild für viele Forenmaster. "a.s.h." wurde 1987/88 zur Diskussion der Frage eingerichtet, warum sich die Anzahl der Suizide in den Ferien erhöht. Im Laufe der Jahre wurde die unmoderierte Diskussionsgruppe ein umfassendes Forum zu Fragen der Suizidalität,angefangen bei der Mitteilung und Diskussion von Suizidphantasien und Suizidmethoden über literarische bis hin zu rechtlichen, psychologischen und philosophischen Fragestellungen. Heute wird das Forum durch eine umfangreiche Webseite mit Dokumenten und Links begleitet. "a.s.h." versteht sich heute als "Subkultur", geeint durch den Glauben, dass der Mensch ein Recht auf Suizid hat, ohne zum Suizid ermutigen zu wollen.
Die Problematik der Suizidforen kann nur vor dem Hintergrund des allgemeinen Umgangs der Gesellschaft mit Suizidalität verstanden werden. In den Foren entsteht ein Freiraum, eigene suizidale Gedanken zu formulieren, die im Alltag tabuisiert sind. Man muss auch eingestehen, das es in Deutschland noch an realen niedrig schwelligen Angeboten für suizidale Jugendliche fehlt. Ebenso wie Erwachsene werden sie es in der Regel massiv ablehnen, eine psychiatrische Einrichtung aufzusuchen. Die Frage der Problematik der Suizidforen muss auch mit der Frage verknüpft werden, welchen Raum diese Jugendlichen alternativ für den Ausdruck dieser Gedanken haben und wo Ihnen, wenn nötig, geholfen werden kann.
Die Analyse von Kommunikation im Internet muss die spezifischen Eigenheiten dieses Mediums berücksichtigen. Huang untersucht die Frage, welche spezifischen Beziehungsformen im Internet entstehen und zum Ausdruck kommen können: Die schwierigste Aufgabe für jemanden, der etwas über das Internet lernen will, ist nicht zu lernen, wie man die technischen Ebenen der Kommunikation beherrscht, sondern wie man sich an die Verschiebung der Erwartungen akklimatisiert, die durch eine neue Kommunikationsform bewirkt wird" (Huang 1996, S. 864). Er charakterisiert die Kommunikationsformen im Internet als zeitlos und allgegenwärtig. Alles kann gespeichert und damit dauerhaft erhalten werden. Mit Zunahme der Informationsmasse wird die Phantasie von Allwissenheit gefördert.
Polarisierung und extreme Schwankungen in der Einschätzung von sich selbst und anderen scheinen wichtige Aspekte von Beziehungen im Internet zu sein (Hoekstra 1999, Seemann et al. 1999). Die Währung" der Email ist, so Young (1996a), das schnell geschriebene Wort,ohne Augenkontakt, ohne Nuancen der Intonation, und ohne die sofortige Möglichkeit,Mißverständnisse zu bemerken und zu korrigieren. So gesehen stellt die Kommunikation per Email eine Verschärfung d e r Probleme dar, die bereits in der Literatur über Telefonpsychotherapie unter dem Begriff der visuellen Deprivation", dem Fehlen non-verbaler Zeichen und einem körperlichen Gefühl des mangelnden Kontaktes diskutiert wurden (Chiles 1974, Kaplan 1997, Rotchild 1997). Eine der herausragendsten Aspekte von Email-Briefen ist, daß die Leute beinahe keine Hemmung spüren, sich auszudrücken zum Guten wie zum Schlechten. Sie können etwas sagen, was sie wohl kaum am Telefon sagen oder in einem Brief schreiben würden; hauptsächlich, so denke ich, weil es sich alles anfühlt, als geschähe es im Kopf. Man braucht nicht einmal die Stimmlage des anderen zu kennen, kein Blatt Papier, Briefumschlag, Briefmarke oder der Weg zur Post sind nötig. Cyberspace hat eine Phantasie-Qualität. Als Folge davon sagen die Leute die intimsten und die schrecklichsten Dinge mit bemerkenswerter Leichtigkeit." ( Young 1996a S. 2). Holland (1995) prägte für dieses Phänomen den Begriff der Internet Regression".
Young äußert die Erfahrung, daß das Internet besonders attraktiv für scheue und schizoid strukturierte Menschen ist, die emotionale Aspekte von intellektuellen und imaginativen abspalten. Besonders attraktiv aber sei es für Leute mit Grandiosität in ihrem Make-up" ( Young 1996b, S. 4). Ein sehr fragiles Selbst könne zum Ausdruck kommen: Einerseits wird dabei hohe Authentizität und Intimität gewünscht, andererseits aber kann die Kontrolle darüber, was gezeigt und was verborgen gehalten wird, immer aufrecht erhalten bleiben. Die Problematik der Kommunikation im Internet sieht Young besonders im Mangel an physischer Präsenz ( Young 1996c). Das Fehlen der physischen Präsenz des Gegenübers wirkt, so Young, dem Erleben von Containment in einer Beziehung entgegen und ist der Grund für die dramatischen Spaltungen, Idealisierungen und Entwertungen, die Beziehungen im Internet oft beherrschen können.
Vor diesem Hintergrund entdramatisieren sich viele an sich erschreckende Beiträge von Teilnehmern der Suizidforendiskussionen. Die Dramatik in den Beiträgen der Foren und Chatrooms muss nicht zwangsläufig so interpretiert werden, das sie auch in tatsächliche suizidale Handlungen umgesetzt werden.
Nach den letzten vorliegenden Zahlen des Statistischen Bundesamtes (1999) nahmen sich im Zeitraum 1996 - 1999 jährlich zwischen 321 und 345 Kinder und Jugendliche das Leben:
Jahr | unter 15 (Alter) | unter 20 (Alter) | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
insgesamt | männlich | weiblich | insgesamt | männlich | weiblich | |
1999 | 35 | 26 | 9 | 286 | 230 | 56 |
1998 | 50 | 34 | 16 | 295 | 224 | 71 |
1997 | 36 | 28 | 8 | 298 | 237 | 61 |
1996 | 51 | 36 | 15 | 276 | 224 | 52 |
Die Zahlen unterliegen jedoch einer beträchtlichen Dunkelziffer. Die tatsächliche Zahl dürfte mindestens 25 % höher liegen. Besonders unter den Drogentoten können sich viele Suizide verbergen. Insgesamt ist der Suizid nach den Unfällen die zweithäufigste Todesursache für junge Menschen.
Die Anzahl der Suizidversuche in diesen Altersgruppen kann nur geschätzt werden, da sie aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht erhoben werden. Man kann davon ausgehen, das die Zahl der Suizidversuche bei Männern ungefähr das 10- bis 15fache, bei den Frauen das 40fache der Suizide beträgt. Die Anzahl der Suizidversuche in diesen Altergruppen kann konservativ auf 5.000 bis 6.000 pro Jahr geschätzt werden (in der Literatur finden sich Schätzungen bis zu 14.000/Jahr). Während eine Steigerung der Anzahl der Suizide in diesen Altersgruppen in den letzten Jahren nicht deutlich zu beobachten ist, legt das Monitoring der "WHO-Europe Multicentre-Study on Parasuicide" nahe, daß es eine Steigerung in der Häufigkeit von Suizidversuchen gibt. Die Rezidivquote bei Suizidversuchen liegt bei 20 bis 30 %, dabei für ca. 10 % mit tödlichem Ausgang innerhalb von 3 Jahren nach dem ersten Suizidversuch. Zumindest zeitweise Gedanken an einen Suizid oder an den eigenen Tod können nach Studien bei 15 bis 30 % der Jugendlichen vermutet werden.
Obgleich häufig bei Suiziden und Suizidversuchen auf einen Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen hingewiesen wird, geht man davon aus, daß (auch bei einer manifesten Psychopathologie) vor allem entwicklungsphasentypische intrapsychische, familiäre und psychosoziale Konflikte zur Suizidalität Jugendlicher beitragen, die im Bezug zum reifenden Körper, der Ablösung von den Eltern und der Entwicklung einer erwachsenen Identität stehen (Berger 1999). Die nahe stehenden realen Bezugspersonen sind immer in der Dynamik suizidaler Krisen involviert. Ein äußerer Anlass (schlechtes Zeugnis, Enttäuschung, Konflikte mit Eltern, Partner oder Freunden) haben nur " ... unter der Voraussetzung einer drohenden Dekompensation Bedeutung, also dann, wenn der oder die Jugendliche längst von einem essentiellen Unwertgefühl erfasst ist, von ausgeprägten inneren Ängsten, in der emotionalen Abhängigkeit zu den Eltern verharren zu müssen, nicht geliebt und liebenswert, sexuell nicht normal, vielleicht verrückt zu sein." (Berger 1999, S. 40f). Suizidale Jugendliche sind in der Regel über ihre Eltern und über professionelle Angebote nur schwer erreichbar und zeigen eine geringe Compliance. Berger zeichnet für Jugendliche eine Beziehung zur Suizidalität auf, die wir auch in unserer klinischen Arbeit mit Erwachsenen finden: "Zweifellos haben es Adoleszente schwer, sich auf eine therapeutische Beziehung einzulassen. Insbesondere lassen sich Adoleszente ihre Suizidaliät als Symptom einer intrapsychischen Konfliktlösung nicht wegnehmen. So wie die Magersucht gehütet wird wie ein Juwel, so die Suizidalität. Beide Phänomene gelten als subjektiv wertvolle Errungenschaften und das Selbst erhaltende Strategien im Prozess des Erwachsenwerdens oder des Kampfes dagegen. Demzufolge will ein suizidaler Jugendlicher oft keine therapeutische Beziehung herstellen, sondern sie zerstören. Er will nicht sein Leiden verstehen, sondern sein Leben beenden." (Berger 1999, S. 59, zu der Thematik siehe auch Laufer 1995).
Das heißt, der Jugendliche möchte zuerst einmal nicht gerettet, sondern mit seiner Suizidalität verstanden und ernst genommen werden. Er möchte die Möglichkeit des Suizids für sich offen halten. Dies ist für Eltern, Freunde, Lehrer und professionelle Helfer oft schwer zu akzeptieren. Auch in unseren ambulanten Psychotherapien mit akut suizidalen Patientenkönnen wir feststellen, dass eine therapeutische Beziehung oft erst dann zu Stande kommt, wenn der Therapeut die Suizidalität akzeptiert. Vielleicht liegt an dieser Stelle die Faszination für viele Jugendliche in der Kommunikation in den Suizidforen: Sie finden hier -ohne sich persönlich preisgeben zu müssen- eine Akzeptanz und ein Verständnis für ihr psychisches Erleben, das sie im realen Leben nicht erwarten. Im realen Leben fürchten sie Unverständnis, Stigmatisierung, Hospitalisierung und Kontrolle.
Die Foren und Chatrooms im Internet könnten also Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Gefühle von Ausweglosigkeit, die sie weder den ihnen nahe stehenden Menschen anvertrauen können und zu diesem Zeitpunkt erst recht nicht gegenüber Mitarbeitern von Beratungsstellen, Ärzten oder Psychologen öffentlich machen wollen, erst einmal anonym anderen mitteilen und darauf Reaktionen erhalten. Dies könnte eine emotionale Entlastung bringen und mit viel Glück einen Prozess einleiten, in dem langfristig auch in einem direkten und persönlichen Kontakt mit einem Therapeuten Hilfe gefunden werden kann.
Es ist also zu vermuten, dass in den Forendiskussionen Jugendliche teilnehmen, die zunächst mit bestehenden professionellen Angeboten nicht zu erreichen sind und dass in den Foren eine Auseinandersetzung mit Suizidalität stattfindet, die es schon immer gegeben hat und für die andere Wege gefunden wurden (Drogen, Risikoverhalten, Fremd-aggressionen etc.). Für die Einschätzung, dass durch die spezifischen kommunikativen Eigenheiten des Mediums Internet (s.o.) Menschen erreicht werden, die professionelle Face-to-Face Hilfsangebote nicht in Anspruch nehmen, sprechen auch die Erfahrungen von Einrichtungen, die Beratungsangebote im Internet anbieten (Samaritans, Telefonseelsorge etc.). Ob und wie ein Transfer von der Diskussionsteilnahme in Suizidforen zu einer professionellen Hilfe möglich ist, ist derzeit allerdings nicht bekannt.
[Weil die Samaritans verfügbar im Internet sind, vielleicht sollen die professionellen Helfer sich anfragen, warum man Diskussionsteilnahme im Suizidforen vorzieht.]
Auch über die Gefahren dieser Diskussionsforen ist letztlich nichts bekannt. Auf jeden Fall können sie generell nicht aus Einzelfällen geschlossen werden. Verabredungen zum Suizid sind auch in der Prä-Internet-Ära bekannt und finden im klinischen Alltag auch ohne Nutzung des Internets statt. Das Internet bietet hier also eine Erweiterung der Möglichkeiten. Durch die breite Berichterstattung des gemeinsamen Suizids der beiden jungen Menschen in Norwegen ist allerdings zumindest für gewisse Zeit eine häufigere Nachahmung von Verabredungen via Internet zu erwarten - aber nicht unbedingt eine generelle Zunahme von Verabredungen. Dass Teilnehmer dieser Foren auch Suizid begehen, ist evident, denn schließlich sind sie suizidal. Ob sie sich auch das Leben genommen hätten, ohne an diesem Foren teilzunehmen, ist unbekannt - aber nicht unwahrscheinlich. Wir wissen auch nicht, wie viele Teilnehmer an diesen Diskussionsforen sich letztlich das Leben nehmen, viele scheinen es nicht zu sein. Wir wissen nur wenig über die intrapsychische Funktion der zum Teil sehr detaillierten Diskussionen über Suizidmethoden für die Diskussionsteilnehmer, d.h. die potentielle Bedeutung des Austauschs für die Lösung und Bewältigung innerseelischer Konflikte. Aus dem klinischen Alltag wissen wir zum Bespiel, daß viele Suizidale mit einem in "Griffweite" zur Verfügung stehenden Suizidmittel jahrelang weiterleben und daß der direkte Austausch über massive Suizidphantasien, -pläne und -impulse eine deutlich entlastende Wirkung haben kann. Auffällig ist jedoch, daß die Methodenfragen in die Foren - und damit in eine Diskussion- eingebracht werden, wo detaillierte Anweisungen auf vielen statischen Webseiten abrufbar sind.
Eine Gefahr für manche Jugendliche ist trotzdem vorhanden. Die -wissenschaftlich nicht abgesicherte- Vermutung ist, dass dies besonders für Jugendliche gilt, die sich mit manifesten psychiatrischen, z. B. schizoiden oder Borderline-Pathologien aus realen sozialen Beziehungen zurückziehen und für die das Leben im Internet Suchtcharakter annimmt.
Da die Teilnahme an den Forendiskussionen für die Information über Suizidmethoden nicht notwendig ist, kann vermutet werden, das die Methodendiskussionen und Suizidankündigungen ein Ausdruck der der Suizidalität innewohnenden Ambivalenz ist, nach der es nicht primär um das Sterben geht, sondern darum, so wie bisher nicht weiterleben zu wollen. Immerhin wird hier die Suizidalität noch kommuniziert! Wer noch spricht ist -in dieser Weise- an das Leben gebunden. Hier besteht eine Gefahr, welche die Forenmaster unterschätzen. Getragen von der Ideologie des Rechts eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, übersehen sie den in den meisten Postings bewusst oder unbewusst ausgedrückten Wunsch, weiterleben zu wollen. [Vielleicht übersehen die Foren master solches Wunsch nicht, sondern wollen sie nichts schreiben, daß wie Suizidprävention auslegen könnte.] Problematisch ist daher die fehlende Professionalität der Forenmaster und vor allem auch deren unbekannte Motivation zur Einrichtung eines solchen Forums. [Wenn Sie das Motivation der Fornmaster wissen wollen, warum fragen Sie Ihnen nicht an? Haben Sie je gefragt?]Die Nichtwahrnehmung ihrer bewussten oder unbewussten Rettungsphantasien in der Forendiskussion können also bei Teilnehmern zu einer weiteren Enttäuschung und damit zu suizidalen Handlungen führen. [Vielleicht. Solches Mutmaßung is doch nicht beweisen.]
Für eine Gefahreneinschätzung ist eine genauere Beobachtung und Untersuchung der Diskussion in den Foren wünschenswert. Um das Gefährdungspotential eines Forums einzuschätzen, sollten besonders die Antworten analysiert werden, die auf Postings mit Suizidintentionen erfolgen.
In der medizinisch/psychologischen Fachliteratur sind bis jetzt so gut wie keine wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Internetkommunikation und Suizidalität zu finden. Drei Beiträge weisen kurz, allgemein und unspezifisch auf Gefahren hin (Adekola et al 1999, Dobson, 1999, Mehlum 2000), eine ausführliche Problematisierung von Baume (1997), eine textanalytische Untersuchung der Beiträge in der Newsgroup "alt.suicide.holiday" (Fekete 2001), ein Beitrag von Janson et al. (2001) über Internet-observed suicide attempts (der uns nicht vorliegt) und ein Beitrag von uns über email-Kommunikation in der Therapie suizidaler Patienten (in Druck). Es ist unseres Wissens z.B. noch nicht untersucht, in welchem Umfang sich Besucher der Suizidforen das Leben nehmen oder Suizidversuche machen, ob die Forenteilnahme zum Suizid motiviert hat, ihn verzögert hat, oder ob der Suizid oder Suizidversuch auch ohne Forenteilnahme wahrscheinlich gewesen wäre. Eine genauere Untersuchung wäre als Grundlage für solide Einschätzungen und Entscheidungen wünschenswert.
Ad 1: Verfügen Sie über Erfahrungen im Umgang von Jugendlichen mit Suizidforen, und wie schätzen Sie das Gefährdungspotential ein?
Über direkte Erfahrungen mit Jugendlichen im Umgang mit Suizidforen verfügen wir nicht. Wir verfügen über 11-jährige klinische Erfahrungen in der ambulanten psychotherapeutischen und psychiatrischen Arbeit mit akut suizidgefährdeten Menschen ab dem Alter von 16/17 Jahren. Seit 7 Jahren verfügen wir über eine umfangreiche Internetpräsenz. In diesem Rahmen haben wir Erfahrungen mit Email-Korrespondenzen mit suizidalen Patienten erworben und wissenschaftlich begleitet. Neben unserem eigenen umfangreichen Webangebot providen wir die Internetpräsenz des European Network for Suicidology (ENS). Seit mehreren Jahren beobachten wir regelmäßig die Entwicklungen im Internet hinsichtlich der Angebote zum Thema Suizidalität.
Zu der Einschätzung der Gefahren beachten Sie bitte die Vorbemerkung.
Ad 2: Halten Sie es für sinnvoll, daß Fachkräfte in diesen Foren aktiv mitdiskutieren, auf Beratungsangebote hinweisen oder bei intensiv geäußerter Todessehnsucht intervenieren? Haben Sie diesbezüglich Erfahrungen gemacht?
Unsere Erfahrung ist bislang, dass Beiträge von Professionellen in den Foren eher abgelehnt werden. Interventionen bei intensiv geäußerter Todessehnsucht können dann so kommentiert werden: "Lasst uns doch in Ruhe, ich will mich nicht umbringen". Unser Eindruck ist, dass professionelle Interventionen i.d.R. abgelehnt werden oder kontraproduktiv sein können, da sie in der Richtung interpretiert werden, dass hier jemand sei, der ihn retten möchte und die gezeigte Suizidalität nicht als Teil der Persönlichkeit des Posters anerkenne. Allerdings möchten wir nicht ausschließen, daß es Möglichkeiten professioneller Interventionen gibt, die vermutlich nur mit Einverständnis der Forenmaster herzustellen sind.
Ad 3: Welche Möglichkeiten sehen Sie, auf "verführende" Personen einzuwirken, die Suizid aktiv propagieren, als "sauberste Lösung" oder als "einzige konsequente Haltung" darstellen, sich als "Begleiter in den letzten Stunden" anbieten oder Suizidmerthoden mit detaillierter Anleitung schildern oder Hinweise auf die Beschaffung von Hilfsmitteln (Waffen, Medikamente) geben?
Es sollte in diesen Fällen Druck auf die jeweiligen (auch ausländischen) Provider ausgeübt werden, Foren und Webseiten, in denen solche Beiträge auftauchen, zu schließen. In Einzelfällen dürfte das möglich sein. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Forenmaster auf Provider ausweichen, die solche Maßnahmen strikt ablehnen. Ob die Anwendung des Strafrechts möglich ist, entzieht sich unserer Kenntnis.
Ad 4: Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, regelmäßig Warnhinweise oder Hinweise auf Beratungsangebote in diese Foren zu senden (zu posten), evtl. auch automatisiert?
Ich glaube nicht, dass solche Maßnahmen etwas bewirken. Sie werden vermutlich von den Teilnehmern als störend, als Einmischung und als Bestätigung erlebt, daß man ihre Nöte nicht ernst nehmen will.
Ad 5: Welche Möglichkeiten sehen Sie, auf die Betreiber solcher Foren Einfluss zu nehmen? Kann dies ausschließlich auf der "Good-Will"-Ebene passieren oder sehen Sie auch eine rechtliche Handhabe?
Der Versuch, mit Goodwill auf Forenbetreiber Einfluss zu nehmen, ist sicher sinnvoll. Es scheint mir auch sinnvoll zu sein, die Betreiber zu bewegen, von sich aus Hilfshinweise in den Foren zu platzieren. Das dürfte nachhaltiger wirken als das ungefragte Posten von Hinweisen Dritter. Eine Möglichkeit wäre vielleicht, daß in Abrede mit dem Forenmaster professionelle Sidechats mit den Sendern von Postings ermöglicht werden, bei denen aus professioneller Sicht eine akute Suizidgefahr droht. Bei Vereinbarungen mit den Forenmastern sollte allerdings in jedem Fall darauf geachtet werden, sie nicht mit der Zusammenarbeit als eine "Stütze der Suizidprävention" zu adeln. [Weil das Absicht solches Sidechats Suizidprävention ist, wird die Forenmaster natürlich wie eine "Stütze" aussehen.] Rechtliche Handhaben sind mit uns bekannt. Auf jeden Fall sollten Betreiber von Foren, in denen der Suizid propagiert wird, wo Jugendliche zum Suizid gedrängt werden und Beschaffungshilfe versprochen wird, geschlossen werden. Vielleicht kann es gelingen, die jeweiligen Provider zu bewegen, bei hinreichender Begründung die entsprechenden Seiten zu schließen. Auf jeden Fall sollten die unhinterfragten Hinweise auf diese Foren aus den Linksammlungen etablierter Webanbieter verschwinden (z.B. Yahoo u.a.).
Ad 6: Wie schätzen Sie die Wirkungen öfffentlicher Warnungen vor dem Gefahrenpotential solcher Foren ein? Sollte darauf gänzlich verzichtet werden, um noch mehr Jugendliche erst aufmerksam zu machen? Ist dies nicht angesichts der Medienberichte obsolet?
Leider haben sehr reißerische Medienberichte das Augenmerk auf diese Foren gerichtet. Öffentliche Warnungen werden den Foren nach meiner Einschätzung nur mehr Gewicht zuweisen, aber keinen davon abhalten, sie aufzusuchen. Wer suizidale Gedanken hat, wird sicher nicht davon abgehalten werden, solche Foren aufzusuchen, vielleicht wird eher die Neugier von weiteren Jugendlichen auf diese Foren gelenkt. Gewarnt werden sollten eher jene Medien, die über die Suizidalität und Suizide von Jugendlichen reißerisch berichten.
Ad 7 und 8: In welcher Form und durch welche Institutionen halten Sie ggf. Warnungen vor dem Gefährdungspotential und/oder vor der Teilnahme an solchen Foren für sinnvoll? ... Welche Präventionsstrategien sollten aus Ihrer Sicht die Jugendhilfe ergreifen?
Nach unserer Auffassung sollte eine präventive Arbeit nicht in Warnungen vor den Foren bestehen, sondern sich für die öffentliche Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Enttabuisierung des Suizids und der Suizidalität einsetzen. Nach unserer Einschätzung haben Jugendliche bereits suizidale Gedanken, wenn sie Suizidforen aufsuchen, sie bekommen sie dort nicht erst. Die Aufklärung muss sich den Fragen widmen, dass es keine Schande ist, solche Gedanken zu haben, wie man damit umgehen kann, wie man dies bei anderen erkennen kann, und wie und wo man helfen kann. Unserer Einschätzung nach ist die Nachfrage nach den Suizidforen und die aktuelle Berichterstattung darüber ein Symptom für die Hilflosigkeit der Gesellschaft im Umgang mit der Suizidalität ihrer Mitglieder, jedoch nicht die Ursache der Suizidalität.
Präventiv sollten aus meiner Sicht durchaus Suizidforen von Fachkräften gezielt beobachtet werden. Dabei ist das Augenmerk nicht so sehr auf die suizidalen Äußerungen der Jugendlichen zu richten, als vielmehr auf die Antworten, die sie darauf erhalten. Denn die Antworten bilden aus meiner Sicht die Kriterien für die Gefährlichkeit eines Forums. Insgesamt wäre die Bildung und Finanzierung eines Projektes sinnvoll, das die Auswirkungen von Suizidforen wissenschaftlich untersucht, um Kriterien für eine gefährdende, aber auch suizidpräventive Wirkung solcher Foren fundiert zu entwickeln.
Jugendliche, Eltern, Multiplikatoren wie Lehrer, Fachkräfte in der Jugendarbeit etc. sollten Warnsignale kennen lernen und adäquate Möglichkeiten zur Verfügung bekommen, Gespräche mit Jugendlichen über Suizidalität zu führen. Nicht ohne Grund nennt die WHO das Brechen des Tabus über Suizidalität und "Awareness" oft an erster Stelle bei ihren Auflistungen suizidpräventiver Maßnahmen.
Die Autoren
Georg Fiedler, Dipl.-Psych., Lehrer
Dr. med. Reinhard Lindner, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,
Psychotherapeut
Anschrift
Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete
am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
Martinistrasse 52
20246 Hamburg
Tel.: (040) 42803 4112
Fax: (040) 42803 4949
email: tzs@uke.uni-hamburg.de
Internet: www.suicidology.de
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